Der Student Bart sagt zu, als seine Mutter ihn fragt, ob er auf sein altes Zuhause und die Katzen aufpassen möchte. Er hat geplant mit seiner neuen Freundin Roos, die er in der Bibliothek kennen gelernt hat, eine schöne geruhsame Woche in seiner alten Heimat zu verbringen. Doch daraus möchte nicht so recht was werden. Schon am zweiten Tag findet er einen Brief, der ihn aus dem Tritt bringt. Es ist eine Einladung zur Beerdigung von Abel, Barts Schulfreund, den er seit damals nicht mehr gesehen hat. In Rückblicken erzählt er ihre gemeinsame Geschichte, die doch noch so viele Einflüsse auf Barts jetziges Leben hat. Und auf die Beziehung zu Roos, wie sich bald herausstellt.
Es stellt sich die Frage nach der Kategorie, in die dieser Roman gehört. Ein Schwulenroman in Gänsefüßchen, obwohl kein einziges Mal das Wort SCHWUL in diesem Text vorkommt? Ist es ein Werk über Coming-Out? Ist es ein Jugendbuch? Reich-Ranicki würde sagen: es gibt keine Frauen, Männer oder Schwulenbücher – es gibt nur gute und schlechte Bücher. Meiner Meinung nach ist „Abel“ ein gutes. Vor allem deswegen, weil es eben kein Coming-Out-Buch ist. Nein, es geht um ganz andere Dinge: seine Identität zu finden und dazu zu stehen. Egal, ob diese Identität der Norm entspricht oder auch nicht. Dass das Vehikel dazu die Homosexualität einer Figur ist, einem Rand-Thema, wie wir bei der Rezension von „Schwule Nachbarn“ schon bemerkt haben, ist nebensächlich. Es könnte auch ein Junge sein, der die Bäume liebt wie im gleichnamigen Roman Stefano Marcellis. Gute Bücher handeln immer von den großen Dingen. Von der Findung der Persönlichkeit, von Wahrheit und Dichtung, von Leben und Tod.
Auch hier geht es um Tod. Und um die Dichtung des Lebens. Alle wichtigen Figuren, die ihre Vergangenheit in diesem Ort verbracht haben, bauen eine Fassade auf, sehen die Dinge auf ihre Weise, verdrängen die so genannte Wahrheit. Allen voran die Mutter von Abel, die Bart erzählt, Abel sei mit einer Reisegruppe unterwegs gewesen, als er verunglückte. Doch das ist eine bereinigte Wahrheit. Mit ihm auf der Reise war sein Freund Tim, den sie einfach ignoriert. Der wiederum den Kontakt zu Bart sucht, weil er gerne alte Bilder von Abel nachmachen und sich alte Geschichten erzählen lassen möchte. Der junge Student fühlt sich aber damit überfordert. Er hat all seine alten Gefühle verdrängt. Er hat Abel aus seinem Leben verdrängt. Und er erzählt Roos ganz lange nicht die Wahrheit über einzelne vergangene Erlebnisse. Er kann sich vieles nicht eingestehen. Was fühlte er damals für Abel? Freundschaft? Liebe? War die Liebe größer als zu normalen Kumpels? Gibt es einen Namen für diese Gefühle damals?
Abel versuchte eine Annäherung, nachdem er mit dem gemeinsamen Lehrer Frijda gesprochen hatte, doch Bart blockte rüde ab. Und Bart schubste ihn ins Feuer, um eine unliebsame Berührung abzuwehren. Er verleugnet ihn judasgleich danach, als sich Abel schmerzverzerrt im Zelt windet. „Bin ich denn sein Bruder und muss ihn pflegen?“ fragt er. Er verleugnet zunächst auch Roos am Telefon, als seine Mutter ihre Kontrollanrufe macht.
Bart findet im Laufe der Geschichte zu sich und das macht diesen Roman so interessant. Anneke Scholtens beschreibt die Figuren und insbesondere Bart sympathisch, sehr detailgetreu, einfühlsam. Sie beschreibt die Ängste der Menschen und die Tabus, die es in unserer Gesellschaft gibt: über Gefühle zu sprechen, über das Anderssein, über das Verhalten, das nicht der Norm entspricht. Roos, die quirlige Frau an Barts Seite, die sich mit Tim verbündet, spielt eine große Rolle dabei.
„Abel“ ist ein sehr lesenswertes Buch, das mich sehr an ein anderes sehr empfehlenswertes Buch aus Holland erinnert. Ted van Lieshoot schrieb vor einigen Jahren einen Roman namens „Bruder“, in dem es um zwei Brüder ging. Der eine bringt sich um und der andere liest nach dessen Tod das Tagebuch und macht sich auf eine Reise in die Gedanken und Gefühle des Bruders. Dieses Buch erschien 1998 im Middelhauve Verlag in München und umfasste 173 Seiten. Es ist sicherlich noch genauso im Fachhandel erhältlich wie „Abel“ von Anneke Scholtens, das 2007 im Männerschwarm-Verlag gebunden herausgegeben wurde, 140 Seiten umfasst und siebzehn Euro kostet. Geld, das sich lohnt, denn dies ist ein Buch, das man mit an den Main nehmen und in einem Rutsch lesen kann.