In den Jahren 1993 – 2004 wurde der „Literaturpreis der schwulen Buchläden“ sechs Mal verliehen. Ein Preis, der an Autoren verliehen wird, die sich in ihren unveröffentlichten Texten schwerpunktmäßig mit Aspekten des Lebens schwuler Männer beschäftigen. Der Preis verstand sich als Initiative zur Förderung deutschsprachiger schwuler Literatur, wollte Talente fördern und öffentliche Aufmerksamkeit auf diesen Bereich der Literatur lenken. Der letzte Preisträger war 2004 Gunter Geltinger.
Leonard Engel, der von allen Menschen außerhalb seiner Familie Engel genannt wird, ist 20, schwul, talentiert, hat gerade sein Abitur im mainfränkischen Idyll gemacht. Die Welt steht ihm offen und er hat eine erste Liebe namens Marius. Es könnte alles so schön sein! Doch dieser verquälte und krankhaft nach sich selbst suchende junge Mann verlässt ihn Hals über Kopf und flüchtet sich forthin jahrelang in neue glamouröse Abenteuer. Auch Volker, der ihn seit der achten Klasse schon liebt, und ihn nach Wien bringt, lässt er unbarmherzig fallen. Engel nistet sich bei Volkers Schwester Feline ein, mit der er eine Seelengefährtin findet, die ebenso destruktiv ist wie er selbst. Er studiert Drehbuch, und landet regelmäßig in der psychiatrischen Anstalt, vollgepumpt mit Pillen, Alkohol und anderen Drogen. Sein erstes großes Fiasko erlebt er mit Tiago, einem brasilianischen Stricher, den die Künstlerin Feline ihm kauft, und in den er sich verliebt, aber von dem er wenig beachtet wird. Engel findet auch in Südfrankreich bei seiner Schwester weder eine Struktur noch die Ruhe, um entspannt weiterzuleben. Er wird hinausgeschmissen und landet in Köln auf der Straße, wo er fortan lebt, bis er den jungen Lehrer Boris im Waschsalon kennenlernt. Endlich hat er einen Ort gefunden, an dem er bleiben kann, und einen Menschen, der ihn vielleicht auf den Boden bringen kann.
Gunter Geltinger, der 1974 in Erlenbach am Main geboren wurde, in Wien Drehbuch und Dramaturgie und an der Kunsthochschule für Medien in Köln studierte, hat in seinem aufregenden Erstlingswerk einen Roman über einen jungen Mann geschrieben, der an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet. Eindrucksvoll beschreibt er, wie Engel an ans andere Ufer jenseits des Flusses gelangt, womit er das Überschreiten der Grenzlinie, der Borderline, meint. Oder in der mächtigen, bildhaften und fast rauschhaften Sprache Geltingers:
Alles Scheiße, schreibt er, was er hier aus einer Welt erzählt, die hochtrabend und bedeutungsschwer jenseits des Flusses ansiedelt, die aber in Wirklichkeit nur seine kleine, armselige Welt auf der Grenze zur Menschlichkeit oder, besser gesagt, zum Menschsein überhaupt ist, ein Außenseiter-, eine Versager- und Verrücktenwelt, und er setzt ab und holt Luft und versucht, tief und ruhig zu atmen, doch der Schmerz in der Brust wird stärker, beginnt ihn zu lähmen und höhlt die Gedanken aus, und kurz bevor die Taubheit die Arme und Hände erfasst und über die Tischkante sinken lässt und mit ihnen alles bisher Erreichte in den Abgrund hinabzustürzen droht, in dem er, Engel, nur noch kauern und harren und wimmern, aus dem ihn nichts und niemand mehr herausholen kann und wo nur zwei oder drei trocken heruntergewürgte Tavor-Tabletten die Folter vorübergehend verkürzen, kurz vor dem Tod also dieses gerade erst geborenen Tages reißt er sich weg von der Fallkante, der Todesschwelle, und schreibt.
Bei der BPS sind die Bereiche der Gefühle, des Denkens und des Handelns beeinträchtigt, was sich durch negatives und teilweise paradox wirkendes Verhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen sowie im gestörten Verhältnis zu sich selbst äußert. Dies zeigt sich in allen seinen sogenannten Liebesbeziehungen. Bei Marius, seiner ersten Liebe, den er sofort wieder verlässt. Noch mehr bei Volker, der die bösartige Zurückweisung Engels niemals verwinden wird. Selbst mit Feline verbindet ihn eine destruktive, selbstzerstörerische Beziehung. Doch alles hat viel mit der wichtigsten Beziehung in seinem Leben zu tun. Die Beziehung zu seiner Mutter, die die meiste Zeit ihres Familienlebens depressiv im abgedunkelten Schlafzimmer liegt, auf die stets Rücksicht genommen werden muss, und die er nicht erretten kann. Es ist unschwer zu erraten, dass die Liebe, die seine depressive Mutter ihrem Sohn nicht geben kann, den jungen Mann in eine tiefe Krise stürzen, ihn auf die Suche nach einem Heilmittel gegen die quälenden Brustschmerzen treiben.
Der Typ ist ein Wichser, schreibt Engel, ein Selbstficker, der andere Menschen nur als Material benutzt, um sich mit ihrer Hilfe in Stimmung zu bringen, in Lebensstimmung, und er haut seine Finger auf die Tasten: am Umgang mit Menschen interessiert ihn nur die Ausbeute an Lebensfülle, die Anzahl der Orgasmen, die sie ihm bereiten, das Maß an Aufmerksamkeit, mit dem sie sein Ego mästen, die Menge an Liebe, die sie ihm ins Brustloch stopfen, die Dosis Kultur, die sie ihm in seinen Junkintellekt spritzen.
Dieses Buch ist auch vor allem ein Buch über das Erzählen, über das Zusammenspiel von Wahrheit und Fiktion. Letztere bezeichnet die Schaffung einer eigenen Welt durch Literatur, Film, Malerei oder andere Formen der Darstellung sowie den Umgang mit einer solchen Welt. Zur Erklärung von Fiktion werden in der Literatur– und Kunsttheorie unter anderem fehlender Wahrheitsanspruch und mangelnde Übereinstimmung mit der Realität herangezogen.
Ich halte im Schreiben inne und lausche; in Wahrheit, sagt er, gehören all diese Lügen genauso wenig zu mir wie die so genannte wahre Geschichte, wie es zu all diesen Narben kam. Was meinst du damit? Frage ich. Er zögert. Obwohl ich mich an die Umstände fast jedes einzelnen Schnitts genau erinnere, sagt er, an den Ort, an die Zeit –, seine Stimme wird, während er spricht, gehetzt und gepresst –, ob vorher jemand mich verlassen hat oder ich jemanden weggejagt habe – er holt Luft und betrachtet gedankenverloren den Schmetterling auf seiner Hand –, obwohl ich also die Geschichte jedes einzelnen Schnitts in aller Ausführlichkeit erzählen könnte, so, wie du es hier gerade getan hast, fährt er dann wieder ruhiger fort, stand keine dieser Narben aus meinem tatsächlichen Leben.
Der heute dreißigjährige schreibende Engel trifft an dieser Stelle sein geschriebenes Alter Ego, welches ihm eine Wunde zufügt. Es scheint so, als bräuchte der Erzähler die Erschaffung des geschriebenen Engels, um sein Leben zu bewältigen und sich selbst zu erretten. Die einzelnen Episoden in seinem Leben werden in verschiedenen Varianten erzählt.
Alle Geschichten stimmen, aber keine davon ist wahr.
Geltinger reißt uns damit in ein Hin und Her von Glauben und Unglauben, wir fragen uns ständig: ist dies wahr? Oder ist es unwahr? Kann dies wirklich Realität sein? Träumt Engel? Erfindet Engel wieder etwas? Ein weiteres irritierendes Beispiel dafür:
Aber ist es nicht nur eine krude und ungerechte Fantasie, dass sie dir, wie an anderer Stelle behauptet, als Zeichen ihrer stillen Verbundenheit damals ihre Schlaftabletten gegeben hat, die du, Engel, gib´s zu, in der Hoffnung, von ihr eine Antwort zu bekommen, in Wirklichkeit selbst aus der Kommode mit der Hausapotheke gestohlen hast und die später, bei der Niederschrift deiner Geschichte, das Glas heiße Milch ersetzten, das sie dir an jenem Abend in dein Zimmer brachte, um mit dir zu reden, eine Geste, die du in deiner jugendlich-trotzigen Verzweiflung aber schnaubend zurückwiesest?
Dieses Werk von Gunter Geltinger ist sicherlich kein einfaches Lesevergnügen, aber es lohnt sich, den jungen Anti-Helden Engel, den man mitunter zu hassen beginnt, auf seinem Lebensweg zu begleiten. Geltinger ist mit „Mensch Engel“ ein großer Wurf gelungen: im Gegensatz zu vielen anderen Romanen, die bei radiosub besprochen wurden, und die Thematik schwullesbischen Lebens berührt, ist dies große, unbedingt lesenswerte Literatur. Sicherlich ist dieser Roman der Weihnachts-Geschenk-Tipp für all diejenigen, die ihre Mitmenschen eine spannende Lektüre wünschen.
Der Roman „Mensch Engel“ von Gunther Geltinger umfasst 272 Seiten, ist beim Schöffling & Co. Verlag 2008 erschienen und für 19,90 Euro im Fachhandel erhältlich.