„Als sie ihm die Tür öffneten, trat er grußlos ein, ging die Treppe hinauf, durchquerte den ersten Stock, gelangte ins hintere Zimmer, sank aufs Bett und fiel ins Koma. Dergestalt von sich selbst befreit, keinen Schritt vor dem Abgrund des Todes, den er wenig später hinabstürzen würde, verbrachte er die, wie ich glaube, einzigen friedvollen Tage seit seiner fernen Kindheit.“
So beginnt der in die Sprache verliebte Ich-Erzähler diesen gleichermaßen amüsanten wie bedrückenden Roman über das Sterben. Der Plot lässt sich leicht zusammenfassen: Der Erzähler kehrt zurück nach Hause, also nach Medellin, Kolumbien, um seinen nächst jüngeren Bruder, auf dessen letztem Weg zu begleiten. In einem Bewusstseinsstrom berichtet er nebenbei über seine Kindheit und Jugend, seine 25köpfige Familie. Er berichtet von der Sterbehilfe an seinem Vater, schimpft über seine wahnsinnige Mutter, die jedes Jahr ein Kind gebar und sich ansonsten von ihrem Mann und ihren Kindern bedienen ließ. Er ärgert sich über seine jüngeren Geschwister, insbesondere dem jüngsten, den er „der große Sack“ nennt, einem debilen Muskelprotz. Er lästert auch über sein Heimatland Kolumbien und noch öfter über den Papst. Bei seiner Kritik ist er rigoros und schreckt vor nichts zurück:
„Ich verabscheue Samba. Samba ist das Schäbigste, was die Erde hervorgebracht hat, einmal abgesehen von Wojtyla, dem Pfaffenpapst, diesem Geschmeiß, dem weißen schlüpfrigen fiesen Wurm mit seinen Schleichwegen. Hach, die weißen Schühchen, weißen Strümpfchen, das weiße Regenkäppi, weiße Soli Dechen! Ist dir das nicht peinlich, du alte Schwuchtel, die ganze Zeit als Transe rumzulaufen, als wärst du unterwegs zu einer Schwulenparade?“
Ihm ist nichts heilig, auch Gott nicht:
„Wie viele Flugzeuge ziehen wohl gerade durch den Himmel, dachte ich. Und wie viele Menschen und Tiere wurden eben jetzt geboren. Oder starben. Und wozu das alles? Wozu die Plackerei, wie Großmutter gesagt hätte? Um den Plan Gottes zu erfüllen? Ja, Großmutter, um den Plan des Monsters zu erfüllen.“
Aus ihm spricht die Verzweiflung, er sieht keinen Sinn im menschlichen Tun. Alles erscheint ihm negativ:
„Draußen machte das Radio des Leichenwagens ein Brimborium um die neuesten Nachrichten: Gavarita habe verkündet, Samperita erlassen, Pastranita gedroht. Papi wurde mit Scheiße verabschiedet. Nichts zu machen, zwischen Scheiße werden wir geboren, leben und enden wir.“
Es sterben nur die Falschen, aber niemals die Richtigen, wie etwa der Papst oder seine grässliche Mutter:
„Solange Papi in seinem Zimmer im Sterben lag, lümmelte die Wahnsinnige in einem Ruhesessel in der Bibliothek vor dem Fernseher und sah Serien. Zählt man die fünf Jahre Verlobungszeit mit, lebten die beiden seit sechzig Jahren zusammen, von denen mein Vater mindestens während der letzten zwanzig Jahre ihr Dienstmädchen gewesen war: Nicht ein Glas brachte ihm Doňa Wahnwitz während dieses nicht enden wollenden Monats, in dem ich ihn sterben sah.“
Der Erzähler ist das älteste der 23 Kinder dieser Familie und musste dementsprechend die kleineren Geschwister erziehen. Sein ein Jahr jüngerer Bruder Dario liegt nun im Sterben, er hat Aids, und es beginnt das letzte Stadium. Er isst nichts mehr – weil er auch das Kiffen aufgehört hat, das ihm wenigstens ein paar Fressattacken beschert hatte. Er hat überall Flecken und sämtliche Krankheiten, die einen befallen, wenn das Immunsystem am Ende ist. Der Ältere, Chemiker von Beruf, versucht ihm die letzte Zeit so angenehm wie möglich zu machen. Gegen den Durchfall gibt er ihm z.B. ein Mittel, das normalerweise bei Verdauungsproblemen von Kühen genommen wird. Gemeinsam erinnern sie sich an die vergangenen Jahre. Zueinander gefunden haben sie erst, als sie irgendwann entdeckten, dass sie beide schwul sind. Der Ältere schenkte Dario den ersten Knaben.
„Du erinnerst dich doch an den Studebaker, Dario, an den Neid von ganz Medellin? „Das fahrende Bett“ nannten sie den, und diese abgehalfterte Stadt, in der nur die Reichen ein Auto besaßen, spuckte Gift und Galle. „Schwule Bande!“ brüllten sie, wenn wir in unserem wunderbaren, mit Knaben gefüllten Gefährt vorbeirollten.“
Die beiden sind sehr unterschiedlich. Der Erzähler, der seine Sprache liebt und sich an verbalen Kleinoden erfreut…
„Der Cauca! Der Magdalena! Tosende Flüsse des Zorns, die eine reine Seele hatten und sich Respekt zu verschaffen wussten. Nicht wie diese tuntigen Bächlein von heute mit der Seele eines Kanalrohrs.“
…der alles so schwarz sieht und so wütend ist:
„Das Leben ist ein einziges Aids. Sehen Sie sich die Alten doch an: schwach, abgemagert, immungeschwächt, mit Flecken am ganzen Körper und Haaren in den Ohren, die länger und länger werden, während ihnen der Pimmel wegschrumpft. Wenn das kein Aids ist, weiß ich nicht.“
…und sein Bruder Dario:
„„Leb, Dario. Rauch, trink, f…, das Leben ist kurz. Das Leben ist dazu da, im Hier und Jetzt verschwendet zu werden, hat Horaz gesagt, hat Ovid gesagt, sage ich.““
Dario, der Verantwortungslose:
„Im Übrigen, wäre ich der Aids-Kranke gewesen und er gesund, ich schwöre bei Gott, der mich hört, Dario hätte mich mit einem Tritt in den Arsch auf die Straße gesetzt. So war er, mein Bruder, auf seine Verantwortungslosigkeit war Verlass.“
Dario, der sein ganzes Leben gesoffen, gef…, gekokst und was auch immer hat, der nie ein Quäntchen Willensstärke zeigte und immer süchtig war.
Dies ist ein Roman für nachdenkliche Menschen, aber auch für jene, die feinen und manchmal auch sehr derben Humor und Gesellschaftskritik mögen.
„„Nichts, Großmutter, tagein, tagaus dasselbe: Tote, Tote, Tote. Eben haben sie bei mir im Bus, in dem nach Laureles, viermal auf einen Herrn eingestochen. Wer hier lebt, muss auf alles gefasst sein, umso mehr, wenn´ s ihm gutgeht und er lacht. In diesem Land ist jedes Lebenszeichen eins zu viel.““
Der Roman „Der Abgrund“ von Fernando Vallejo ist 2002 im Suhrkamp Verlag erschienen, umfasst 191 Seiten und ist für ca. 20 Euro als gebundene Ausgabe im Fachhandel erhältlich.