Ich habe die genaue, physische Erinnerung an eine Befreiung. Es war, es würde man ein Gewicht ablegen, als wäre Schluss mit dem, was nicht hätte sein dürfen, als bekäme man Gelegenheit, endlich sein Schicksal zu beherrschen. Man behauptet, es gäbe Menschen, die lange brauchten, um das zu werden, was sie sind. Ich gehöre zu ihnen.
So charakterisiert sich Tom Scheppard, der Held dieses Buches von Philippe Besson, der wieder nach Falmouth, einer Hafenstadt in Cornwall, in die sich nur wenig Touristen verirren, zurückkehrt. Aber das erste Mal in seinem Leben fort von seiner Geburtsstadt, denn er musste mehrere Jahre im Gefängnis verbringen. Nun läuft er auf der Hauptstraße des Fischerdorfes entlang und fühlt sich genauso eingesperrt wie die Jahre davor. Er ist ein Aussätziger, ein Kindermörder. Niemand spricht mit ihm. Er kehrt in sein leeres Haus zurück, in seinem Leben scheint es niemanden mehr zu geben. Im ersten Kapitel führt er einen Monolog mit sich selbst. Im zweiten Kapitel hat er die Möglichkeit, mit dem pakistanischen Ladenbesitzer Rajiv zu sprechen, sich alles von der Leber zu reden. Im dritten Kapitel nähert sich ihm Betty, die junge Mutter, die im Kiosk arbeitet.
Dies ist bereits der sechste Roman von Philippe Besson, der auf Deutsch erscheint. Er schreibt von den Außenseitern der Gesellschaft. In diesem Fall von Tom, der seit seiner Kindheit sein Bein hinterherzieht, weil er einen unglücklichen Unfall hat, Rajiv, der aus London flüchtet und sich nun quasi in Cornwall versteckt, und die junge Mutter Betty, die, weil sie einen unehelichen Sohn hat, von den Einheimischen geschnitten wird.
Betty hat eine andere Formulierung: „Wir sind die Davongekommenen. Weil es ihnen nicht gelungen ist, uns zu versenken.“
An einem Tag, an dem es sehr stürmte, und Unwetterwarnungen gemeldet wurden, fährt Tom mit seinem kleinen Sohn aufs Meer hinaus. Der Junge ist vergnügt, spielt glücklich, doch plötzlich passiert das Unerhörte.
Als er seine Rettungsweste geöffnet hat, habe ich dem keine besondere Beachtung geschenkt. Und als er vom eisigen Regen und der Gischt der Wellen, in denen wir trieben, weggefegt wurde und auf den feuchten Blanken ausrutschte, war ich nicht überrascht. Ich habe mir nur gesagt: das musste passieren. Ich habe mich an mein eigenes Ausrutschen auf dem Pflaster im Hafen, fast im selben Alter, erinnert. Ich habe gedacht: es wäre zu dumm, wenn er sich das gleiche Handikap zuzöge wie ich, wenn er das Bein nachschleppen würde. Und im selben Impuls hat mich dieser Gedanke verführt. Mit dieser Behinderung wäre er vielleicht endlich mein Sohn gewesen. Durch das Handikap wäre ich womöglich zu seinem Vater geworden. Entsteh t eine Verwandtschaftsbeziehung durch eine gleiche Versehrtheit? Man hätte ihn während der Pausen auf dem Schulhof ausgelacht. Eine Marianne wäre ihm zu Hilfe gekommen. Er hätte ein schlechtes Leben gehabt.
Plötzlich überfällt Tom Panik: er kann doch nicht mit dem Kind als Leiche wieder in den Hafen zurückkehren. In einem Impuls schmeißt er seinen Sohn ins Wasser. Die Menschen glauben nicht an einen Unfall. Er muss ihn wohl umgebracht haben. Schließlich sei Tom sowieso merkwürdig, ein Außenseiter, ein Freak. So sagt auch Rajiv zu ihm, dass er der ideale Schuldige gewesen sei, denn die Menschen sehen nur Schwarz und Weiß, und Tom stehe ganz eindeutig auf der schwarzen Seite, die des Bösen. Auch seine Frau Marianne glaubt ihm kein Wort, Marianne, die ihn seit seiner Kindheit kannte, die ihn so nahm, wie er war, die ihn liebte. Eine Zeit lang.
Betty möchte eine Beziehung mit ihm beginnen, sie kann ihm unvoreingenommen gegenübertreten. Sie verliebt sich mit ihm. Sie reden miteinander, Tom erzählt ihr alles. Doch er kann sie nicht glücklich machen, ihre Avancen nicht erwidern. Er hat die Fähigkeit verloren, für Frauen Interesse aufzubringen, sagt er. Er erzählt ihr lieber von seinen Erfahrungen im Gefängnis. Und von Luke, seinem Zellengenossen.
Wieso ist Tom zurückgekehrt? Worauf wartet er?
Auf Luke, der tatsächlich nach Falmouth kommt, und nun mit Tom zusammenlebt. Langsam hatten sie sich im Gefängnis angenähert, eine Beziehung aufgebaut. Sich lieben gelernt. So wie sich zwei lieben, die sich verstehen, ohne Worte, ohne große Gesten.
Besson gelingt es in einer sehr unprätentiösen, gefühlvollen Sprache, ein Psychogramm von Menschen zu zeichnen, die von der Gesellschaft zu Außenseitern gemacht werden. Er möchte kein Mitleid für seine Figuren erheischen, er möchte nicht auf die Tränendrüse drücken. Er versucht die Gedanken- und Gefühlswelten seiner Heldinnen und Helden zu verstehen und ohne Wertung zu beschreiben. Dabei gelingen ihm gelegentlich ganz weise Formulierungen, die den Leser zum Nachdenken animieren.
Dieser Roman ist unbedingt zu empfehlen, ein sehr lesenswertes, wertvolles Buch von einem Literaten, der auch in Deutschland eine immer größere Fangemeinde aufgebaut hat.
Der Roman „Einen Augenblick alleine“ von Philippe Besson umfasst 178 Seiten, ist im DTV Verlag im Jahre 2008 erschienen und für 12,90 Euro im Fachhandel erhältlich.