Der Einzelgänger von Christopher Isherwood

 

Der Autor Christopher Isherwood wurde 1904 in Cheshire, England, geboren, lebte Anfang der Dreißiger Jahre in Berlin, was er im Buch „Leb wohl, Berlin“ verarbeitete und womit er in der Bühnenfassung namens „Cabaret“ Weltruhm erlangte. Ab 1934 reiste er durch mehrere Länder Europas, später auch nach China, bis er dann 1939 in die Vereinigten Staaten auswanderte. Isherwood, der zur jungen englischen Literatur-Elite der Dreißiger Jahre gehörte, erinnert mit seinem Stil an die „Neue Sachlichkeit“, zu deren bekanntesten Vertretern Bert Brecht, Erich Kästner, Alfred Döblin, Arnold Zweig und Heinrich Mann zählten. Er eröffnete mit seiner Sichtweise ein neues Kapitel der Geschichte der Literatur. Er schreibt darüber in „Leb wohl, Berlin“: „Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss, ganz passiv, ich registriere, ich denke nicht.“

In diesem Roman beschreibt der Autor einen Tag im Leben des achtundfünfzigjährigen Einzelgängers George, der ein „fürchterlicher“ Misanthrop ist. George ist Literaturprofessor in einer amerikanischen Universität und lebt nach dem Tod seines langjährigen Beziehungspartners Jim alleine und einsam in dem gemeinsamen Haus. Obwohl er Kontakte zur Außenwelt hat, lebt er trotzdem merkwürdig isoliert von den übrigen Menschen, die sich weigern, sich mit seiner Homosexualität auseinanderzusetzen. Dies bestimmt auch seine Überlegenheit, denn er weiß mehr über sie als sie über ihn. Dieser Unterschied beschreibt seine Position. Er bleibt ein Außenseiter, ein Einzelgänger. Er spielt an diesem Tag verschiedene Rollen: in der Universität bei einer Vorlesung, beim Essen mit seinen Kollegen, beim Plausch mit einem seiner Studenten, im Fitness-Studio, bei seiner alten Freundin Charlotte…

In wenigen Wochen werde ich nicht mehr viel von der Handlung dieses Romans wissen, aber das macht nichts, darauf kommt es beim Lesen nicht an. In Büchern soll man Erfahrungen, die man gemacht hat, wieder erkennen, die Szenen aus der gegenwärtigen Lektüre mit welchen aus Filmen, aus anderen Büchern, aus dem eigenen Leben vergleichen. Es geht um die Erinnerung, um die Emotion, um das Reifen. So liest man Romane mit mehr innerer Beteiligung, wenn man ständig auf Szenen trifft, die man aus dem eigenen Erfahrungshorizont kennt. Vielleicht begreift der Leser dann, vielleicht weint er, vielleicht ist er zornig, vielleicht deprimiert. Wenn ein Buch es geschafft hat, das innere Eismeer zu durchbrechen, hat es sein Ziel erreicht.

„Der Einzelgänger“ hat dies bei mir geschafft. Wie in der Szene im Supermarkt: Der Protagonist geht einkaufen und sieht die vielen Produkte, die ihm verheißungsvoll entgegenblicken, die sagen: Nimm mich mit! und die guten Appetit versprechen, und denkt dann:

„Kaum bist du in deinem leeren Zimmer, findest du schnell heraus, dass dich die trügerische Elfe Werbung geschickt hintergangen hat. Was übrig bleibt, sind Kartons, Zellophan und Kalorien. Und dir vergeht jeder Appetit. Dieser freundliche Ort ist eigentlich gar keine Zufluchtsstätte. Im Hinterhalt all der Flaschen, Kartons und Dosen lauern erschreckend lebendige Erinnerungen an Mahlzeiten, die eingekauft, zubereitet und verspeist wurden, zusammen mit Jim. Und sie stechen auf George, während er seine Einkaufswagen vor sich herschiebt. Wer nie sein Brot alleine aß…“

Spätestens jetzt weiß der Leser, in dem Fall ich, dass es absolut normal ist; dass viele Menschen dieses Gefühl kennen: im Lidl zu stehen und verzweifelt und deprimiert die Orangensaft-Packung anzuschauen, die ich einstmals mit meinem Ex-Freund gekauft und getrunken habe;  die Dinner Mints, unsere Lieblingssüßigkeit, in den Einkaufswagen zu tun, mit Herzstichen.

Die Haustiere, die George und Jim gemeinsam hatten, gibt er aus dem gleichen Grund weg, sie erinnern ihn zu sehr an den alten Freund, den er unsäglich vermisst.

„Der Durchgang zur Küche ist zu schmal gebaut worden. Zwei Leute in Eile, mit Frühstückstellern in der Hand, müssen hier einfach zusammenstoßen. Und genau hier, fast jeden Morgen, wenn George die unterste Treppenstufe erreicht hat, überkommt ihn plötzlich das Gefühl, er stehe auf einem jäh und brutal abbrechenden Felsvorsprung – so als sei jeder weitere Weg von einem Erdrutsch verschlungen worden. Genau hier hält er unvermittelt inne, und ihm wird aufs Neue, fast als wäre es zum allerersten Male, bewusst: Jim ist tot. Ist tot. … Bewegungslos steht er still und wartet darauf, dass die Beklemmung weicht. Dann erst betritt er die Küche. Diese morgendlichen Beklemmungszustände sind viel zu schmerzhaft, als dass ihnen mit sentimentalen Mitteln beizukommen wäre. Erleichterung spürt er erst, wenn sie vorbei sind. Es ist wie das Durchstehen eines bösen Krampfes.“

Doch was heißt Durchstehen?! Jeder, der diese Beklemmungen kennt, weiß, dass diese Gefühle den ganzen Tag ihren Nachhall finden, vielleicht nicht in weiteren Beklemmungen, aber in anderen negativen Empfindungen, in Zorn, Aggression, in Niedergeschlagenheit oder Depression. So ist George den Nachbarskindern gegenüber aggressiv, für sie ist er ein Monster. Diese seine Art konnte er an der Seite von Jim vor diesem verbergen, nun kommt sie zum Ausbruch.

„Was würde Jim sagen, wenn er beispielsweise mit ansehen müsste, dass George mit fuchtelnden Armen wie ein Wilder aus dem Fenster brüllt, während Mrs. Strunks Benny und Mrs. Garfeins Joe aus purem Übermut auf der Brücke hin und her toben?“

Joana Zimmer singt: „I´ ve learned to walk alone“ und wer kennt den Schlager nicht: „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“. Nach einer Trennung von einem langjährigen Beziehungspartner leben alle Menschen in diesem Spannungsfeld. George bleibt in dem gemeinsamen Haus, weil er die Hoffnung hat, eine neue Liebe zu finden, einen neuen Jim. Doch wie? Das einsame Leben bekommt ihm nicht – diese Bindungslosigkeit. Aber einen Partner zu finden, zumal in seinem fortgeschrittenen Alter? Er ist achtundfünfzig, hat aber den Körper eines Jüngeren, da er regelmäßig ins Fitness-Studio geht. Ich kenne dieses Gefühl genau: diese Perspektivlosigkeit, dieser fehlende Sinn, wenn man nur für sich alleine lebt, ohne die etwaige Freude mit einem Partner zu teilen, oder die Trauer, den Ärger. Viele können nicht alleine gehen, schon gar nicht, wenn sie das Gefühl haben, dass sie von den restlichen Menschen nicht angenommen werden. Weil sie anders sind, fremd, überlegen, gegen den Strom.

Seine Studenten schwimmen nicht gegen den Strom, sie werden die gleiche Biographie haben wie ihre Eltern, wie alle, die gleichen Gedanken, die gleichen Normen. Die Kinder verhalten sich wie im Fernsehen, imitieren ihre Serienhelden, die Werbung. George übt Gesellschaftskritik, auch in Bezug auf die Menschen in seinem Alter, wenn er im Fitness-Studio feststellt, dass er besser als sie aussieht. Warum?

„Nicht, dass die anderen in besonders schlechtem Zustand wären – es sind ganz gesunde Kerle –, was bei ihnen nicht stimmt, ist ihre fatalistische Einstellung zum Altern, dieses unwürdige Resignieren, Großvater zu sein, in Ruhestand zu treten, Golf zu spielen. George unterscheidet sich von ihnen auf eine Art, die man nicht genau beschreiben kann, die jedoch sofort ins Auge springt, wenn man ihn nackt sieht – denn er hat noch nicht aufgegeben.“

Auch bei seinen Studenten ist der Professor unbeherrscht, gerät außer Kontrolle. Er hält Predigten, redet die Jüngeren nieder. In einem Monolog spricht er vom Verhältnis von Minoritäten zu Majoritäten, ignoriert dabei den Blick eines homosexuellen Studenten.

„Angenommen, diese Minorität wird jetzt verfolgt – ganz gleich, aus welchen politischen, wirtschaftlichen oder psychologischen Gründen. Gründe gibt es immer, ganz gleich, wie falsch sie sein mögen – das ist meine Meinung. Natürlich ist Verfolgung an sich immer falsch; darin sind wir uns doch wohl alle einig. Das Schlimme dabei ist, dass wir hier auf eine weitere liberale Ketzerei stoßen. Der Liberale sagt sich: Weil die verfolgende Mehrheit gemein ist, deshalb muss die verfolgte Minderheit makellos rein sein. Sehen Sie nicht, was für ein Unsinn das ist? Müssen unbedingt alle christlichen Opfer in der römischen Arena Heilige gewesen sein?“

Auch die Minorität hat ihre Aggression, sagt George, sie fordert die Majorität heraus, sie anzugreifen. Sie hasst die Majorität, natürlich nicht ohne Grund. Aber sie hasst sogar alle anderen Minoritäten, weil sie untereinander in Konkurrenz stehen.

„Jede verkündet dass ihre Leiden die schlimmsten und die Kränkungen die tiefsten seien.“

Dabei werden die Minoritäten immer unangenehmer, je mehr sie verfolgt und gehasst werden, was natürlich absolut verständlich ist.

Dies ist meines Erachtens ein sehr kluger Roman. George ist zwar durch die vielen Bücher, die er gelesen hat, nicht weiser geworden, aber er sagt trotzdem einige weise Dinge. Die Sprache des Christopher Isherwood ist unprätentiös, etwas, das man einigen „schwulen“ Autoren wie Nathschläger oder Simon Rhys-Beck wünschen würde. Sie ist leise, aber präzise. Dieses Buch ist subtil, es fordert zum Nachdenken heraus, es macht traurig oder melancholisch, doch mitunter kann man auch über den Protagonisten herzlich lachen, weil er sich selbst nicht zu ernst nimmt.

Der Roman „Der Einzelgänger“ von Christopher Isherwood ist 2005 in einer neuen Übersetzung im MännerschwarmSkript Verlag erschienen, umfasst 182 Seiten plus einem Kommentar und ist gebunden für achtzehn Euro im Fachhandel erhältlich.

Veröffentlicht in Buch