In einem Internetforum kann man folgende „Postings“ lesen:
„… seine vermessung ist – ‚gähn‘, manche welche es gelesen hatten war es arg langweilig und langatmig geraten. fazit: es stört nicht wenn man seine bücher nicht gelesen hat!“ – „nanu? also ich kennen niemanden der dieses buch als langweilig bezeichnet hätte. eher das gegenteil ist der fall, typisches in-einem-durchles-buch-wenn-man-nicht-schlafen-und-arbeiten müsste…“ – „ich bin beinahe gestorben vor Langeweile. ich habs nie zu Ende gelesen. hype, hype.“ – „ich fands auch todlangweilig.“ – „Intellektualität als Autismus? Ohne mich.“ – „Sie greifen mMn zu hoch, Kulturindustrie bleibt, was sie ist. Herr Kehlmann ist aber ein Phänomen: Er ist der erste Unterhaltungsschriftsteller, der sich in jedem Interview mit Größen wie Proust, Nabokov, Bunuel etc. in Verbindung bringt oder bringen läßt, was natürlich Quatsch ist. Also postmodern im Sinne von „cross the border, close the gap“ (zwischen E und U), ganz nach dem Motto: „Mein Zeug ist auch spitze, wenn wir’s dazu machen und ein paar richtige Namen fallen lassen“.“
Im NLP gibt es eine Methode, die sich Storytelling nennt, und die viele verschiedene Einsatzbereiche kennt. Verführungskünstler zum Beispiel setzen Geschichten gezielt ein, um Frauen davon zu überzeugen, welch guten Eigenschaften sie haben. Ob es aus solchen Erwägungen heraus geschah, dass Daniel Kehlmann sich in einem Interview erneut auf Größen wie Raymond Carver, Buñuel oder Feuchtwanger bezog? Redet er sich und das Buch selbst stark, um den Kritikern (ganz nach NLP-Methode) nach seinem Erfolg von „Der Vermessung der Welt“ keine Chance zu lassen, ihn niederzuschreiben? „Ich glaube, dass es formal das Avancierteste ist, was ich je gemacht habe. Ich bin damit künstlerisch am weitesten vorangekommen.“ Das sagte er „klug“, wie der interviewende Journalist konstatiert, über sein eigenes Buch, und vieles mehr. Doch um was geht es in diesem Buch? Und kann es als ein Voranschreiten im Schaffen Kehlmanns angesehen werden?
Ein Roman in neun Geschichten nennt sich das neue Werk Kehlmanns mit dem ironisch gemeinten Titel „Ruhm“. Es sind dies neun Episoden, die sich am Ende zu einem Ganzen fügen, und die mit dem Spannungsfeld von Fiktion und Realität spielen. In der ersten Geschichte kauft ein Mann ein Mobiltelefon und bekommt in der Folge Anrufe, die nicht ihm, sondern einem Herren namens Ralf gelten. Zunächst irritiert, geht er auf dieses Spiel mit der fremden Identität ein und verzweifelt fast, als die Anrufe plötzlich aufhören. Dafür wird ein Schauspieler von einem Tag auf den anderen nicht mehr angerufen. Ein anderer scheint, sein Leben an sich gerissen zu haben. Am Ende wird er als sein eigener Doppelgänger gehalten. Ein Schriftsteller namens Leo Richter macht zwei Reisen mit seiner Freundin, die nicht nur von seinem hysterischen Verhalten genervt ist, sondern auch Angst hat, von ihm in seine Geschichten gepresst zu werden. Eine Krimiautorin geht spurlos verloren. Eine ältere Dame fleht den Schriftsteller, der sie erschaffen hat, an, nicht sterben zu müssen. Ein verwirrter Internetblogger, der Tausende Nachrichten in Foren „postet“, möchte unbedingt in einem Roman des Schriftstellers auftauchen…
Der 1975 geborene Vielschreiber Daniel Kehlmann hat seinen letzten Roman „Die Vermessung der Welt“ 1,4 Millionen Mal verkauft, die Übersetzungsrechte wurden an mittlerweile 42 Länder verkauft. Einen ähnlichen Erfolg hatte zuletzt „Das Parfüm“ von Patrick Süskind, das vor zwei Jahren ebenso kommerziell erfolgreich in den Kinos lief. Auf die Frage, ob er in der Folge nicht sehr viel Druck auf sich spüre, äußert er unbekümmert, dass „der Vorteil eines Bestsellers darin liegt, dass man nie wieder einen Bestseller schreiben muss, dass der Bestseller eine Art Querfinanzierung von allem ist, was einem an seltsamen Dingen künftig einfallen mag, so hat das etwas unglaublich Befreiendes.“
„Quinn erhält eines Abends einen Anruf, der nicht ihm gilt, sondern einem gewissen Paul Auster. Dieser wäre ein bekannter Detektiv, und dringend benötigt. Aus Neugierde, und nachdem Quinn der Anruferin nicht klarmachen konnte, er wäre nicht der Gesuchte, kommt er zu diesem Treffen…“
Dies ist der Anfang einer Inhaltsangabe des Buches „Stadtglas“ aus der New York-Trilogie Paul Austers. Merkwürdig, dass Kehlmann niemals auf ihn verweist, wenn er von den Einflüssen anderer Autoren auf seinen neuen Roman erzählt. Sämtliche Phänomene, die in diesen drei Romanen bearbeitet werden, in denen es um die Auflösung der eigenen Identität geht, um das Nicht-mehr-Unterscheiden-können von Realität und Täuschung, nimmt der Autor hier auf. Er treibt die Grundideen Paul Austers weiter und garniert sie mit den neuen Technologien Mobiltelefon und Internet. Es gibt noch weitere mögliche Vorlagen, die vermutlich keine sind: Number 23 mit Jim Carrey zum Beispiel, bei dem sich am Ende des Films herausstellt, dass er selbst der Autor ist, dessen Buch er fasziniert, ja, geradezu manisch liest, oder auch „Stranger Than Fiction“, in dem ein Angestellter aus einer US-Behörde plötzlich eine Stimme aus dem Off hört, die sein Leben kommentiert. Es stellt sich bald heraus, dass eine Autorin ihn als Figur erfunden hat und er das ihm angedichtete Leben lebt. Er möchte sich davon befreien und eigenbestimmt leben.
Also ist es sicher sehr unfair, Kehlmann anzulasten, zumindest nicht besonders originell gewesen zu sein. Natürlich wäre eine andere Lesart möglich: Dass genau diese Referenzen, die gewollt sind von dem Schriftsteller, die Stärke seines Werkes sind. Der Eindruck entsteht gelegentlich, dass er diese Bilder, die einen an Filme von Bunuel oder die gerade genannten erinnern, an Bücher von Auster, vielleicht sogar von Philip K. Dick („True Lies“, „Paycheck“ etc.), provoziert, und er gerade das bezweckt. Wenn dies der Fall wäre, dann hätte er nicht nur einen Subtext innerhalb seiner eigenen Textteile geschaffen, sondern einen Subtext außerhalb des Romans in eine Welt von Werken, die sich die Frage stellen, ob nicht alle Erzählungen, unabhängig davon, ob sie auf dem Papier oder in der Wirklichkeit geschehen, gleich real und wahr sind. Und ist nicht das der Sinn von Kunst, in der Gedankenwelt des Zuhörers/ Zuschauers/ Besuchers Bilder zu evozieren, die in anderen Kunstwerken ihren Wiederhall suchen und finden? Hat nicht Maxim Gorkij genau dies als schönste Eigenschaft des Lesens angesehen: Beim Lesen einzelner Szenen an Szenen aus anderen Büchern erinnert zu werden?
Kehlmann glaubt zu Recht, dass die neuen Medien unser Leben auf noch ungeahnte Weise verändern. Die Wissenschaften müssen erst erforschen, inwieweit sich bereits jetzt, eine Realität entwickelt hat, die sich von der vor zwanzig Jahren grundlegend unterscheidet. Wie verlieben sich beispielsweise Menschen heutzutage? Die Geschichten über Menschen, die sich aus dem Internet kennen, und sich als Paar bezeichnen, obwohl sie sich noch nie im wahren Leben begegnet sind, häufen sich. In den Augen von jüngeren Menschen wird hier kein Qualitätsunterschied zur gewöhnlichen Art des Kennenlernens bemerkt. Unsere Realität hat sich bereits gewandelt. Geschichten wie in „Gut gegen Nordwind“ von Daniel Glattauer sind heutzutage möglich. Menschen bauen sich eine Parallelwelt auf, in der sie aufblühen können. Als Beispiel lässt sich die Figur aus der siebten Episode des Romans nennen, ein Mann, der als fetter Versager, der in seinem wahren Leben nichts auf die Reihe kriegt, beschrieben wird, lebt sein Leben in vielen verschiedenen Foren, in denen er sich aufspielt, und Tag für Tag unzählige Postings ins Netz stellt. Er hat seine eigene Sprache, die Kehlmann kenntnisreich persifliert. Er hat seine eigene Welt, in der man Leute niederreden kann, nur um sich selbst zu profilieren. Ein Beispiel dafür ist der Schauspieler Ralf Tanner, der in verschiedenen Postings schlimm beschimpft wird. Ralf Tanners vermeintlicher Doppelgänger wird dabei gefilmt, wie ihn eine Frau in einem Restaurant schlägt. Es wird auf Youtube gestellt. Nicht nur der Schauspieler fragt sich nun, was die „eigentliche“ Realität heutzutage ist. Ist etwas nur wahr, wenn es in den Medien ausgestrahlt wird? Was ist Realität, was Täuschung? Und wer hat noch die Macht und die Fähigkeit, dies zu kontrollieren? Wie sieht es mit den an den Anfang dieses Artikels gestellten Postings aus? Ist der Leser überhaupt noch in der Lage, sich von diesen schwarz auf weiß gedruckten „Wahrheiten“ zu lösen, wenn er sie liest? Sind Menschen dazu fähig, sich eine eigene Meinung zu bilden?
Kehlmann greift in seinem neuen Werk ein zutiefst aktuelles Thema auf. Er schafft es in relativ kurzen Worten, Welten aufzubauen, stringente in sich geschlossene Geschichten zu erzählen, die trotzdem miteinander zusammenhängen. Er hat kluge Vorlagen genutzt und weiter um seine eigenen Ideen gesponnen, mit diesen Vorlagen kreativ gespielt und seinerseits eine ganz neue Welt entstehen lassen. Der Autor stellt wichtige Fragen, auf die wir noch keine Antworten wissen, doch er versucht einzelne Aspekte herauszuarbeiten, über die sich seine Leser ihre Gedanken machen können. Aber am schönsten sind die kleinen Ideen, die er einfließen lässt, die kleinen Running Gags, die er auch teilweise selbstironisch einsetzt, zum Beispiel, wenn er sein Alter Ego in dem Buch, Leo Richter, aus dessen Feder Episode 3 mit der vermeintlich sterbenden Rosalie stammt, ständig der Frage aussetzt: „Wie kommen Sie auf Ihre Ideen?“ Leo antwortet stets genervt, aber schon resigniert: „In der Badewanne.“ Eine weitere Lieblingsfigur könnte Miguel Auristos Blancos werden, der Beststeller-Autor, der auf jede Frage dieser Erde eine Antwort hat und diese auch auf Papier bannt. In jeder Geschichte taucht ein anderes Buch aus seiner Sammlung auf. Sein Leben nimmt ein ganz besonders tragisches Ende.
Es ist ein anderes Buch als sein Vorgänger. Besser? Sicher nicht. Bringt ihn es weiter voran in seinem künstlerischen Schaffen? Wahrscheinlich. Wir sind gespannt und erwarten nach diesem kurzweiligen „Mind Advanger“ weitere ruhmvolle Werke von ihm.