Der Junge von nebenan von Martin Büsser

 

„Der Junge von nebenan“ von Martin Büsser wird genauso wie Punkrock Heartland von Andi Lirium „Graphic Novel“ genannt. Ich kenne mich zu wenig in dieser Thematik aus, doch ich würde dieses Büchlein eher „eine kleine Geschichte mit kleinen Skizzen“ betiteln. Ob mir diese entwurfartigen Bilder gefallen? Ich kann es nicht entscheiden. Die einzelnen Blätter des Buches sehen wie Notizzettel aus, mit handgeschriebenen Bemerkungen und kleinen Bildchen zur Verdeutlichung. Es ist einfacher, sich das Ganze als eine Dekoration in einem Arbeitszimmer eines intellektuellen Linken vorzustellen, der den großen Wurf landen möchte mit DEM Jahrhundertroman.

Doch das ist vermutlich zu ketzerisch, wenn man die Person Martin Büsser schon seit Längerem verfolgt. Bereits im letzten Jahr stellte ich an dieser Stelle die Zeitschrift Testcard vor, die er mit herausgibt und für die er auch Artikel produziert. Daneben schreibt er auch für die Sissy, die ich bei Radiosub auch schon vorgestellt habe, und natürlich ebenso für viele weitere Zeitschriften und Zeitungen des linken Spektrums wie die Jungle World, konkret und andere. Er kennt sich fabelhaft aus, was Postpunk, Anti-Folk, überhaupt jegliche neuen Musikstile der Gegenwart, aber auch der Vergangenheit angeht. In unseren Zusammenhängen fällt er aber vor allem durch detailgetreue Kenntnisse im queeren Cinema, Musik von schwulen und lesbischen Bands und dem soziokulturellen Hintergrund, den er darum aufbauen kann, auf.

Was macht er nun in diesem Büchlein? Nachdem er sonst eher als Journalist und Sachbuchautor in Erscheinung trat, hat er nun das erste Mal etwas geschrieben, was man Prosa nennen könnte. Doch Martin Büsser wäre nicht Martin Büsser, wenn er nicht essayistische Momente in dieses Werk gebracht hätte. Die Folie, die er ansetzt, ist die bundesdeutsche Geschichte der Siebziger bis Neunziger Jahre. Er versucht, linke Standpunkte, Mythologien und Bilder in seine zunächst einfache Geschichte einzuweben. In eine Geschichte, die eine Coming-of-Age-Erzählung ist, in der ein Junge niemals zum Mann wird, doch seine schwule Sexualität entdeckt und auslebt.

Die ganze Geschichte beginnt, als der Nachbar des Anti-Helden dieses Buches, übrigens der Metzgerssohn, sein bestes Stück auspackt und auf den Teppich uriniert. Danach ist das Kinderzimmer kein Kinderzimmer mehr. Das ist eine erste Erfahrung mit der gleichgeschlechtlichen Sexualität, auf die noch viele weitere folgen. Doch das Grundproblem ist, dass sich der junge Held nirgends dazugehörig fühlt. Seine Eltern sind RAF-Terroristen und kümmern sich nicht um ihn, sein Opa ist ein alter Nazi, was der Junge verdammt, vor allem als Linker. Und die Schwulen sind ihm zu tuntig, er möchte männliche Typen kennenlernen, Typen, die seine Musik mögen. Um der ganzen Ödnis zu entgehen, zieht er nach Berlin und lernt ganz neue Dinge kennen.

Sympathisch an dem Werk ist, dass es eine Geschichte des Geschichtenerzählens ist. Er spielt mit dieser Thematik, zieht sich bewusst auf eine Meta-Ebene, distanziert sich von seinem eigenen Text oder ironisiert das biografische Erzählen an sich. Durch seine absurden Übersteigerungen führt er seine eigene Geschichte ad absurdum und zeigt hiermit, dass jede Geschichte auch anders erzählt werden könnte.

Irritierend ist allerdings, dass ich nicht recht weiß, was ich von dem ganzen Werk halten soll. Die bundesdeutsche Geschichte der letzten zwanzig bis dreißig Jahre als Folie in einem 100seitigen Buch, noch dazu mit so wenig Text? Das kann doch nur in die Hose gehen. Martin Büsser ist nicht dumm und schon gar nicht ungebildet, er weiß viel, aber er muss sich begrenzen. Und gerade diese Begrenzung verstört. Viele Standpunkte, die er außer Acht lässt, lassen sich einfach nicht ausblenden, zumindest nicht, wenn man so viel vor hat wie er. Daher wirkt die Geschichte manchmal zu konstruiert und zu einfach. Anderseits erscheinen bei dieser Begrenztheit die zahlreichen Verweise auf berühmte Künstlerinnen und Künstler wie Jean Genet, Picasso, De Kooning, Virginia Woolf, Ronald M. Schernikau, Gertrude Stein, Allen Ginsberg eher überladen und eher angeberisch.

Gefällt mir „Der Junge von nebenan“? Ich kann es nicht abschließend sagen. Interessant war es, zum Nachdenken hat es mich gebracht, und vor allem es verstörte es mich. Das ist gut. Aber lest selbst: „Der Junge von nebenan“ von Martin Büsser ist im Verbrecher Verlag erschienen, umfasst genau 100 Seiten und ist für 14 Euro erhältlich.

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