Buchmesse Leipzig. Tausende von Stände, die alle ihre Aufmerksamkeit auf die potenziellen Leserinnen und Leser ziehen möchten. Verwirrt laufe ich durch die Gegend. Da bleibt mein Blick hängen. Auf einem Verlag, den ich noch nicht kannte. Bunt. Schön. Verführerisch. Ich schaue mir die Bücher an. Und entdecke ein besonders schön gelayoutetes. Das von Ricoh Gerbl.
Optik ist wichtig. Ricoh Gerbl ist eine Fotokünstlerin, die in Berlin lebt und arbeitet. Fotografieren und Schreiben – zwei sehr unterschiedliche Dinge. Beim Fotografieren, sagt Ricoh Gerbl, müsse sie in die Außenwelt eintauchen. Versuchen, die äußeren Umstände zu kontrollieren, um schöne Aufnahmen machen zu können. Beim Schreiben, meint sie, muss sie die Außenwelt ausblenden. Mit sich alleine sein, für sich, sich selbst aushalten. Und sie darf nicht dem Schreiben entfliehen. Beispielsweise ins Kino zu gehen, um zu verdrängen. Fotografieren und Schreiben hat auch Gemeinsamkeiten. Bestimmte Bilder einzufangen, Stimmungen, Zustände.
Ricoh Gerbl merkt man beim Lesen an, dass sie aus der Fotografie kommt. Sie bildet kleine Situationen ab, Begebenheiten. Zoomt heran, fängt kleine Gesten, kleine Risse ein. Es passiert etwas, nicht viel, aber es wird in Worten festgehalten. So wie es sonst in Fotos festgehalten wird. Es passiert nicht viel. Es bleibt stehen, das Leben. Es wird betrachtet, näher betrachtet, ganz nah betrachtet. Es werden Worte benutzt, Worttiraden aneinandergereiht. Dabei ist ein schmaler Grat zu erkennen. Der Grat, der von der gelungenen Wortwahl zur Wortschinderei kippen kann. Der Grat, der von genauer Beschreibung, die gefällt, zu Wortungetümen führt, die gefallen wollen, aber nicht gefallen können.
In der Erzählung „Ein männliches Streusel (2)“ schreibt sie:
„Marie versucht es mit Sätzen. Aber die Sätze, die Marie sagt, beeindrucken Lenz nicht. Lenz hebt die Worte, die Marie benutzt, in ein für ihn gültiges Prinzip hinein. Er hebt die Worte hoch, so hoch, dass er damit das, was Marie sagt, aufhebt. Nur Marie hebt er nicht auf. Marie verstummt. Sie will jetzt weder an der Leine geführt noch ungezügelt ihre Worte laufen lassen. Und Lenz führt das Telefongespräch auch ohne sie. Lenz führt das Telefongespräch auch einfach alleine weiter.“
Ricoh Gerbl schreibt in ihren Kurzgeschichten über eine kleine Gruppe von Großstadtmenschen, die alles versuchen, um im Chaos der Bedeutungszusammenhänge einen Sinn zu finden. Ein Muster. Eine Orientierung zu erhalten. Lenz stellt Möbel her und flirtet mit Marie. Ist aber auch an ihrem Bruder Laurent interessiert. Der allerdings verliebt sich einen hübschen Kellner. Conny fertigt skurrile Zeichnungen an und jobbt im Hotel. Herbert arbeitet im Ausland und war früher mit Marie zusammen.
„Heute hat der Vorhang vor der Abstellkammer am Ende des Flurs an einer Stelle eine Nachaußenwölbung, eine Beule. Was ist da vor sich gegangen, fragt sich Conny und schiebt den Stoff zur Seite. Ein Gummistiefel liegt flach, flunderflach auf dem Boden. War er müde geworden, war er es auf einmal müde geworden, aufrecht stehen zu bleiben? Ist er einfach noch zu jung, um über lange Zeiträume hinweg ruhig stehen bleiben zu können? Hat er sich von etwas anderem zu diesem Fall anstiften lassen? Von wem?“
Die Erzählerinnen und Erzähler möchten vielleicht cool wirken. Oder die Autorin? LEBEN IM LUXUS polarisiert die Leserinnen und Leser. Die einen werden sagen: Großartig, großes Kino. Die anderen werden sagen: gequirlte Scheiße, was soll das denn?! Oder: man ändert seine Meinung über das Gelesene alle paar Sätze. Ärger und Freude wechseln sich ab. Auch nicht schlecht!
Der Erzählband LEBEN IM LUXUS der Autorin Ricoh Gerbl ist 2009 im Mitteldeutschen Verlag erschienen. Es umfasst 160 Seiten, kostet 12,90 Euro und ist zum Beispiel über den Shop des mdv unter www.shop.mitteldeutscherverlag.de zu beziehen.