Ich, Adrian Mayfield von Floortje Zwigtman

Da ist ein hervorragendes Buch bisher an mir vorbeigegangen. Wie das passieren konnte? Ich weiß es einfach nicht. Aber lieber spät als nie! Oder? Dafür war der Spaßfaktor umso größer und der Suchtfaktor kann sogleich gestillt werden, denn während die Fans der ersten Minute auf die Fortsetzung warten mussten, habe ich die jetzt direkt vor mir… Wovon ich rede? Von „Ich, Adrian Mayfield“, dem wundervollen Jugendroman von Floortje Zwigtman, die in Belgien und Holland meiner Ansicht nach völlig zurecht der „weibliche Dickens“ genannt wurde und für diesen Roman mit der „Goldenen Eule” und dem „Goldenen Kuss” geehrt wurde.

 

Adrian Mayfield ist, wie der Name schon sagt, der Held der Geschichte, die damit beginnt, ihn in seiner Tätigkeit beim griechischen Schneider Procopius im Osten Londons zu zeigen. Gemeinsam mit seinen beiden jungen Kollegen, die mit ihm in einer Bude wohnen, arbeitet er dort fast Tag und Nacht. Und nur am Samstag Abend frönen sie dem Spaß. Eines Abends tun sie das zu ausgiebig und geraten in eine Prügelei und damit an die Polizei. Dies führt zur Kündigung und Adrian muss nun schauen, wie er zu Geld kommt. Die elterliche Kneipe war schon zuvor zugrunde gegangen, der Vater versucht sich über Theaterengagements irgendwie über Wasser zu halten, für zwei reicht es da nicht. So sucht Adrian Hilfe bei Trops, dem französischen Künstler, der noch zu Procopios´ Zeiten bei ihnen im Laden auftauchte und dem jungen Adrian die ersten Gefühlswirren bescherte. Trops wird sein Freund und eher unfreiwillig auch sein erster Geliebter. Trops bringt den Jungen in Verbindung mit dem Cafe Royal, dem Etablissement, in dem sich damals, Anfang des Jahrhunderts, auch Oscar Wilde, sein Geliebter Alfred Douglas und viele andere Künstler rumtrieben. Adrian wird Modell für Künstler, wie einst Dorian Gray, und letztendlich auch Stricher. Sein neuer bester Freund führt ihn nicht nur in diese Künstlerkreise ein, nicht nur in das „homosexuelle London“, sondern auch in die Literatur und Kultur. 

 

Ja, „Ich, Adrian Mayfield“ ist ein Jugendroman, doch auch wieder einer, der genauso von Erwachsenen gelesen werden kann. Einige Kritiker_innen mahnten sowieso an, dass man diese Thematik, also männliche Prostitution, nicht unbedingt in einen Jugendroman packen sollte. So seien außerdem manche Szenen fast schon pornografisch und nicht unbedingt für Jugendliche geeignet. Manche nannten es nicht moralisch genug für dieses Genre. Doch wie sagte Oscar Wilde in der Vorrede des „Dorian Gray“? „So etwas wie moralische oder unmoralische Bücher gibt es nicht. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Weiter nichts.“ 

 

Dieser Roman von Floortje Zwigtmann IST gut geschrieben, ganz zweifellos. Sie schafft es nicht nur, die Figuren in ihrer Tiefe zu zeichnen, in all ihren Verwerfungen, Verzweiflungen und Verfehlungen, sie schafft es auch, Sympathien für sie zu wecken, mitzufühlen und vor allem mit Adrian mitzufiebern. Einmal mit dem Buch angefangen, schafft man es kaum noch aus der Hand zu legen. Dieser Roman ist für alle, die sich für das viktorianische London interessieren, für alle Oscar Wilde-Fans, aber auch für alle die, die einfach ein spannendes und einfühlsames Buch schätzen. 

 

„Ich, Adrian Mayfield“ von Floortje Zwigtman ist 2009 beim Verlag Gerstenberg erschienen, wurde genial von Rolf Erdolf übersetzt, umfasst 512 Seiten und ist für 16,90 Euro im Fachhandel erhältlich. Die Fortsetzungen sind bereits erschienen und heißen „Adrian Mayfield – Versuch einer Liebe“ und „Adrian Mayfield – Auf Leben und Tod“.

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Ali und Ramazan von Perihan Magden

Vor einiger Zeit hatte ich hier an dieser Stelle das erste ins Deutsche übersetzte Buch von der Journalistin und Autorin Perihan Magden mit dem Namen „Zwei Mädchen. Istanbul story“ vorgestellt. Wir hatten damals die Autorin auch lange auf der Buchmesse in Frankfurt interviewt. Sie ist eine wirklich beeindruckende Frau, die soziale Missstände in der Türkei schonungslos ausfindig macht und deutlich kommentiert.

 

„Ali und Ramazan“ wurde im Jahr 2010 zum Buch des Jahres in der Türkei gewählt, es wird gerade verfilmt. Es geht um „Seite 3“-Jungs – die Seite 3 ist diejenige, auf der Verbrechen, Todesfälle usw. berichtet werden. Und im Jahre 1992 las nun die Autorin vom Tod eines jungen Prostituierten, von Ramazan. Sie recherchierte diesen Fall und schrieb ein halb dokumentarisches und halb literarisches Buch darüber.

 

Der wunderschöne Ramazan ist in einem Waisenhaus in Istanbul untergebracht. Er wird von allen bewundert, nicht alleine deswegen, weil er jeden beim Murmeln spielen besiegt, er ist der Anführer der Jungen im Waisenhaus. Dann kommt Ali, der Kurde, aus einem Bergdorf, niemand weiß, was mit ihm Schlimmes passiert ist, er ist groß, stark, ein Bär. Vom ersten Moment sind sich die beiden Jungen sympathisch, ziehen sich gegenseitig an. Ramazan, der vom Waisenhausdirektor geliebt und vor allem regelmäßig missbraucht wird, verliebt sich genauso in Ali wie umgekehrt. Als sie mit achtzehn Jahren aus dem Waisenhaus in eine ungewisse Zukunft entlassen werden, gibt ihnen nur diese Liebe Kraft. Doch nicht lange. Als sie den ersten freiheitlichen Liebestaumel hinter sich haben und den harten Alltag gemeinsam bewältigen müssen, beginnen sie zu verstehen: Es geht nicht ohne einander, aber auch nicht miteinander. Es ist eine sehr ambivalente Beziehung, die die beiden führen. Der jähzornige Stricher Ramazan und der hypersensible Ali, der bald den Drogen verfällt. 

 

Perihan Magden erzählt in diesem Roman eine sehr tragische, aber vor allem sehr wichtige Geschichte, die in den Achtzigern und Anfang der 90er Jahre spielt. Wichtig deswegen, weil sie Themen anspricht, die in die Öffentlichkeit müssen. Die verheerenden Zustände in den türkischen Waisenhäusern, die mangelhafte Bildung und damit katastrophalen Zukunftsaussichten der jungen Waisen zum Beispiel. Oder der Umgang mit Homosexualität in einer patriarchalen türkischen Gesellschaft. Sowohl Ali als auch Ramazan begreifen sich nicht als schwul, nur weil sie einander lieben. Bei Ramazan geht der Hass auf seine schwulen Freier, die er selbstverständlich fickt, sehr weit. Auch die Freunde des Waisenhausdirektors, ein offensichtlicher Kinderficker, greifen nicht ein, sie scheint das gar nicht zu stören, es wird nicht geahndet. Alle Freunde aus dem Waisenhaus erleben ähnliche Schicksale wie Ali und Ramazan, alle landen nach dem 18. Lebensjahr auf der Straße, schaffen es nicht, sich zu berappeln. Alles erscheint aussichtslos, ihr ganzes Leben ist verkorkst. Man weiß auch nicht, welche schlimmen Sachen Ali erlebt haben muss, die er nicht mal seiner großen Liebe Ramazan erzählt hat, sondern nur einer Psychologin. 

 

Es ist ein erschütternder Text, deprimierend vielleicht auch – und vor allem sehr sehr tragisch. 

Leider hat Perihan Magden, anders als bei „Zwei Mädchen. Eine Istanbul Story“ die Figuren nicht besonders gut im Griff, wahrscheinlich weil sie sie zu wenig kennt. Deswegen erscheinen sie etwas holzschnittartig und oberflächlich. Zudem scheinen ihr die sozialen Zustände, von denen sie erzählt, weitaus wichtiger als die literarischen Aspekte zu sein. Nur so lässt sich erklären, wieso ihre Dramaturgie so daneben geht. Weil sie sehr viele Dinge schon vorausschauend erzählt, bleibt wenig Spannung übrig, man denkt sich ja schon immer, was passieren wird. So geht der Lesespaß manchmal etwas verloren. Leider. Nichtsdestotrotz ist „Ali und Ramazan“ empfehlenswert, weil so viele missliche Zustände und so viele Vorurteile in so einer homophoben Kultur, in der Homosexualität ausschließlich im Verborgenen ausgelebt wird, beschrieben werden. Ich hoffe, dass sich diese „Zustände“ in der modernen Türkei etwas zum Vorteil verbessert haben. Sowohl die Waisenhäuser als auch die Bildung dieser Waisen, ihre Zukunftschancen und natürlich ebenso der Umgang mit Homosexuellen in der Gesellschaft.

 

Der Roman „Ali und Ramazan“ ist im November 2011 im Suhrkamp Verlag in Klappenbroschur erschienen, umfasst 191 Seiten und ist für 13,95 Euro im Fachhandel erhältlich.

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Plattenbaugefühle von Jannis Plastargias

Plattenbaugefühle von Jannis Plastargias ist ein typischer Coming Out Roman und auch speziell an Jugendliche ab 16 Jahre gerichtet. Das äußert sich an der Handlung, aber auch an der Sprache und den im Buch verwendeten Filmbeispielen zur Beschreibung von diversen Situationen. Doch dazu gleich mehr. Zunächst die Frage, worum geht es in diesem Buch?

Durch den Jobwechsel des Vaters ist die Hauptperson Jonas gezwungen von Berlin nach Darmstadt-Kranichstein umzuziehen und hier ein neues Leben aufzubauen. Der 16-jährige Schüler muss auf die EKS gehen, auf der muttersprachliche Deutsche eher die Seltenheit sind. Er muss neue Freunde finden, seine Freizeit neu gestalten, während sein bester Freund und seine Oma in Berlin geblieben sind, da ist dann nur eine Fernbeziehung per Telefon oder Skype möglich.

Er arrangiert sich mit seinem Schicksal, findet neue Freunde und lernt Afyon kennen, den Sohn türkischer Immigranten. In ihm findet er den Mann seiner schwulen Träume und auch Afyon fühlt sich von Jonas angezogen. Das bleibt nicht unentdeckt. Bei Jonas ist dies kein Problem, im Gegenteil: Das Umfeld hatte es bereits vorher gewusst, dass Jonas schwul ist. Bei Afyon sieht es anders aus: Er wird geschlagen und eingesperrt. Um den Lover ihres Sohnes vor weiteren Sanktionen zu schützen, entwickelt Jonas‘ Mutter einen Plan… Der geht zwar nicht ganz auf, aber das wäre auch zu übertrieben. Aber so gibt es einen großen Show-down mit einem unerwarteten Ende.

Jannis Plastargias beschreibt hier sehr detailliert die Irrungen und Wirrungen des Protagonisten. Manchmal etwas zu genau, denn es werden zur Beschreibungen auch diverse Kinofilme bemüht, die es erfordern, dass der Leser sie kennt. Auch wird die Musik beschrieben, die Jonas in dem einen oder anderen Moment hört. Auch hier muss der Leser sich auskennen, speziell in der New Hippie Bewegung. Ich kenne mich eher in der neuen deutschen Welle aus, da sagte mir MGMT nicht viel.

Und die Jugendsprache, speziell unter Deutsch-Türken versucht Jannis hier schriftlich wieder zu geben. Und so gibt es Geräusche wie „Bäddäung“, und Rufnamen wie „Tschounz“ – das erscheint mir dann auch eine Sprech – Generation später zu sein.

Die gesamte Handlung ist in sich spannend aufgebaut, da in den Zeiten der Handlung gesprungen wird: zunächst wird ein Stück vom Ende erzählt, in dem die Hauptperson verfolgt wird und sich ein Überfall anbahnt, und kurz vor dieser Auflösung wird sodann zeitlich nach hinten gesprungen, um zu erzählen, wie es zu dieser Schlussszene kommen konnte.

Auch interessant: Jedes Kapitel besitzt eine Überschrift, die – alle zusammengenommen, wieder einen Satz ergeben, über den man nachdenken kann. Ich – Traumhaft – Anders / Er – Doch – Theater – Krimi – / Real – sein. Aber vielleicht überinterpretiere ich hier.

Wichtiger an der Geschichte ist allerdings, der Migrationshintergrund von Afyon. Hier hätte ich mir als älteren Leser mehr Einblicke gewünscht. Aber wahrscheinlich wäre ich hier mit einem Sachbuch besser aufgehoben gewesen.

„Plattenbaugefühle“ ist  im Größenwahn Verlag, Frankfurt, erschienen, hat 166 Seiten und kostet 12,90 €. 

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Vielleicht lieber morgen von Stephen Chbosky

„Vielleicht lieber morgen“ von Stephen Chbosky ist bereits 1999 in den Vereinigten Staaten erschienen, dort unter dem viel passenderen und schöneren Titel: „The Perks of Being a Wallflower“ (etwa: Die Vorteile ein Mauerblümchen zu sein). Denn es geht um einen Jungen, der vom Mauerblümchen zu einem reifen und „coolen“ Jugendlichen heranwächst. Anfang der 2000er wurde der Roman ins Deutsche übersetzt, eine Ausgabe ziert auch das MTV-Symbol, wie man auf dem Bild links sieht. Es wurde also damals sehr hochgepuscht. Und trotzdem blieb es merkwürdig unbekannt in Deutschland. Aber 2012 wird sich das ändern. Bereits jetzt ist es schwer und teuer an Exemplare zu kommen. Vielleicht hat aber der Heyne Verlag schon eine Neuauflage vorbereitet. Denn 2012 kommt die Verfilmung des Stoffs ins Kino. Autor Stephen Chbosky, der bereits seit einigen Jahren Drehbücher schreibt, verantwortet dieses Mal nicht nur das Drehbuch, sondern auch die Regie. Wir dürfen gespannt sein. Aber was soll schon schief gehen? Wird doch die neue Jugendlichen-Star-Riege Hollywoods in den Hauptrollen zu sehen sein. Emma Watson aus den „Harry Potter“-Filmen und Logan Lerman, der zuletzt den D´Artagnan in „Die drei Musketiere“ und den Titelhelden in „Percy Jackson – Diebe im Olymp“ gegeben hat, werden die beiden Hauptdarsteller sein. 
 
In diesem Roman geht es um den Protagonisten Charlie, der anlässlich des Beginns seines ersten Schuljahres an der High School im Jahr 1991 in Briefen an eine ihm unbekannte Person von verschiedenen Situationen seines Lebens erzählt. Zu diesem Zeitpunkt ist er noch ein introvertierter und psychisch labiler Teenager, dessen einziger und bester Freund Selbstmord begangen hat. Auch seine ihm sehr nahestehende Tante Helen ist verstorben.
 
Im Verlauf des Romans lernt Charlie die etwas älteren Stiefgeschwister Sam und Patrick kennen. Charlie verliebt sich in die „außerordentlich schöne“ Sam, die eben von Emma Watson gespielt wird im Film. Auch mit dem homosexuellen Patrick befreundet er sich. Durch die beiden gewinnt Charlie einen neuen Freundeskreis, macht erste Liebes- und Drogenerfahrungen und findet Spaß an seinem Leben. Gegen Ende erinnert sich Charlie an ein verdrängtes Kindheitstrauma, weshalb er einige Zeit in einer Klinik verbringen muss. Nach seiner Entlassung blickt Charlie zuversichtlich in eine angstfreie Zukunft.
 
Das Schöne bei diesem Briefroman ist, dass Charlie von seinem unkonventionellen Lehrer Bill Leseaufgaben erhält. Er soll Aufsätze über die Bücher, die ihm Bill gibt, schreiben. Der Fänger im Roggen von J. D. Salinger ist da so ein Beispiel, das Chbosky als Inspiration für den Roman bezeichnete. Neben Büchern, die er erwähnt, sind es auch Filme und die vielen Musiktitel, die eine große Bedeutung haben, die einen wundervollen Soundtrack für den Film ergeben werden, wie z.B. Asleep von The Smiths.
 
Dieses Buch wurde viel diskutiert in den USA, was sicherlich an den Themen liegt, die es behandelt: Drogenkonsum, sexueller Missbrauch und Selbstmord… 
 
Dieses Buch ist ein Muss für jeden und jede, die sich mit solchen Filmen wie „I killed my Mother“ oder Büchern wie „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf beschäftigt haben – und diese wunderbar fanden. Dieser Roman „Vielleicht lieber morgen“ ist noch sehr viel beeindruckender als „Tschick“ und ich könnte mir vorstellen, dass auch der Film für großen Zündstoff und viele Kinogängerinnen sorgen wird. Also zuerst das Buch lesen, dann den Film anschauen. 
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