Mit seinen Augen von Jan Stressenreuter

 

In den 50er Jahren gilt in der Bundesrepublik noch folgendes Gesetz, das aus dem Jahre 1935 stammt:

§ 175

(1) Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt, wird mit Gefängnis bestraft.

(2) Bei einem Beteiligten, der zu Zeit der Tat noch nicht einundzwanzig Jahre alt war, kann das Gericht in besonders leichten Fällen von Strafe absehen.

§ 175a

Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter drei Monaten wird bestraft:

1. ein Mann, der einen anderen Mann mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, mit ihm Unzucht zu treiben, oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen;

2. ein Mann, der einen anderen Mann unter Mißbrauch einer durch ein Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis begründeten Abhängigkeit bestimmt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen;

3. ein Mann über einundzwanzig Jahre, der eine männliche Person unter einundzwanzig Jahren verführt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen;

4. ein Mann, der gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt oder von Männern sich zur Unzucht mißbrauchen läßt oder sich dazu anbietet.

§ 175b

Die widernatürliche Unzucht, welche von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

 

Felix heißt die Hauptperson in diesem Roman. Felix heißt „Der Glückliche“. Doch glücklich ist der Mitte-Vierzigjährige nicht. Seit zehn Jahren ist er mit seinem Freund Manfred zusammen. Der Alltag ist eingekehrt, er spürt keine Leidenschaft mehr. Alles erscheint ihm leer, dumpf, leidenschaftslos. Die Luft ist raus. Dann erhält er einen Anruf von der Pflegerin seiner todkranken Mutter. Kaum ist er in seinem alten Zuhause angekommen, stirbt sie auch schon. Sie hatten nicht mehr miteinander gesprochen, seitdem sie ihn, als er achtzehn war, aus dem Haus geschmissen hatte. Der Grund: sein Schwulsein, das sie nicht akzeptieren wollte. Nach ihrem Tod geht er die Sachen durch, auf der Suche nach Informationen über seinen Vater, der verstarb, als Felix ein Jahr alt war. Auf dem Dachboden entdeckt er dann eine Truhe mit alten Briefen und Tagebüchern seines Vaters. Schon bald entdeckt er das Unfassbare: Auch sein Vater war schwul gewesen. Er sucht die große Liebe dessen Lebens, der wie der Zufall es will, Felix´ Nachbar in Köln ist. Anton, der mittlerweile in einem Altenheim wohnt, erzählt die Geschichte einer gescheiterten Liebe. Felix lernt in dieser turbulenten Woche sehr viel über seinen Vater, seine Mutter, seinen Großvater, aber auch über sich und Manfred…

Jan Stressenreuter, Jahrgang 1961, hat vor diesem Roman bereits drei andere Romane im Quer-Verlag veröffentlicht. Mit dem neuen Werk „Mit seinen Augen“ hat er ein spannendes, authentisches Buch über eine Zeit geschrieben, die für schwule Männer nicht einfach war. Er schreibt über eine Liebe in den Fünfziger Jahren. Über Herbert und Anton. Doch Herbert kann nicht zu seiner Liebe stehen, verlässt Anton, und heiratet Maria. Sie zeugen ein Kind, das sie Felix nennen.

Er schreibt darüber, dass schwule Männer ihren Sex heimlich in Klappen suchen mussten, in der Öffentlichkeit sich nicht berühren durften. Nicht einmal in Kneipen, in denen sie sich trafen, durften sie sich berühren. Verhältnisse wie beim CSD, bei dem man Händchen haltend durch die Straßen zieht, sich öffentlich küsst und begrapscht, waren damals mehr als utopisch. Wenn Leute den Eindruck hatten, dass ihr Nachbar mit seinem männlichen Besuch eine sexuelle Beziehung führen könnte, wurde der denunziert. Es gab Listen, auf denen die Namen der schwulen Männer standen. Sie konnten damit rechnen, gekündigt zu werden, wenn dies bekannt wurde. Ihre Karriere war ruiniert, und somit häufig auch ihr Leben. In Klappen gab es regelmäßig Razzien. Oft wurden schwule Männer verhaftet. Im Gefängnis waren sie ganz unten in der Hierarchie. Und jeder weiß, was das bedeutet. Halbstarke versuchten Eintritt in den Kneipen zu erlangen und verprügelten die schwulen Männer.

Dies erfährt Felix in den Geschichten Antons. Zunächst hat er kein Verständnis für seinen Vater Herbert, doch mehr und mehr kommt er hinter die ganze ungeheuerliche Geschichte, wie sie sich wirklich zugetragen hat… und wie sein Vater tatsächlich zu Tode kam.

Zuhörer der Lesungen, die diese Zeit in den Fünfziger Jahren bewusst erlebt haben, sagen: Ja, genau so war es! Jan Stressenreuter hat sehr gut recherchiert und beschreibt die Zeit damals realistisch und spannend. Dieses Buch ist ein Muss für all diejenigen, die sich mit dem Thema Schwulsein befassen möchten. Das schließt heterosexuelle Menschen genauso ein wie schwule und lesbische. Noch dazu ist es spannend wie ein Krimi geschrieben und hat auch alle anderen Merkmale eines guten Romanes. Es ist flüssig zu lesen, das Emotionale kommt auch nicht zu kurz. Und in der Rahmenhandlung wirft Stressenreuter einen kritischen Blick auf schwule Beziehungen in der gegenwärtigen Zeit. Wie groß ist der Kontrast zur beschriebenen Zeit in der Vergangenheit. Interessant sind jedoch nicht nur die Unterschiede zwischen der Beziehung Felix´ mit Manfred und der von Herbert und Anton, sondern auch die Gemeinsamkeiten, die offenbart werden.

„Mit seinen Augen“ von Jan Stressenreuter ist ein absolut lesenswerter Roman, der beim Quer-Verlag erschienen ist, 333 Seiten umfasst und für 14,90 Euro im Fachhandel erhältlich ist.

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