„Das Paradies ist voller Geschichten, die jeder über jeden erzählt und in denen es weder Wahrheit noch Unwahrheit gibt, sondern alles zusammen wahr ist…“
Dies sagt eine Figur aus Andreas Maiers viertem Roman Sanssouci und gibt damit die Marschrichtung des Textes vor: Der Autor setzt seine im 2005 erschienenen Buch Kirilow schon eingesetzte Stil des Bramarbasierens fort, dem beinahe undurchschaubaren fortwährenden Gequassel und Gerede der Figuren. Diesmal wird es verglichen mit dem Singen der Vögel und zumindest vom „Evangeliusmhorst“ als Wort Gottes angesehen, was er am Luisenplatz, dem „Paradies“, äußert.
Das Schwatzen beginnt schon auf der in Frankfurt stattfindenden Beerdigungsfeier Max Hornungs, dem West-Regisseur, der in den Osten ging, um die Serie „Oststadt“ zu drehen. Die Lebensgeschichten der Gäste, die aus Potsdam anreisen, sind miteinander verwoben und sie teilen einige mehr oder wenige dunkle Geheimnisse. Der russisch-orthodoxe Mönch Alexej begibt sich in die Ostprovinz und nimmt an dem Leben derjenigen teil, die sein verstorbener Freund Max in seiner Serie porträtierte und damit für sehr viel Aufruhr sorgte. In einem Erzählreigen gewinnt die Leserin bzw. der Leser immer mehr Einblicke in diese teils lichte, teils dunkle Welt. Von christlichem Glauben ist hier die Rede, von Moral und Anstand, aber auch vom Gegenteil: Dem Tunnelsystem unter dem Park von Sanssouci mit seinen weitverzweigten Räumen und den S/M-Sitzungen, die darin abgehalten werden, und vom Sozialschmarotzertum.
Andreas Maier stellt seinem Roman einen Ausschnitt aus der Apostelgeschichte aus dem Kapitel Der Aufstand des Demetrius voran: „Die einen nun schrien dies, die anderen jenes; denn die Versammlung war in Verwirrung, und die meisten wußten nicht, weshalb sie zusammengekommen waren.“ Die Beerdigungsfeier ist die erste chaotisch verlaufende Versammlung, die der 1967 in Bad Nauheim geborene Autor beschreibt. Der Tumult beginnt, wenn die eigenwilligen Zwillinge Heike und Arnold, auftauchen. Im weiteren Verlauf kommt es zu weiteren Zusammentreffen mit Diskussionen, egal, ob im Stadtrat oder auf dem Luisenplatz. Der Höhepunkt folgt am Ende des Romans, wenn gegen die Wiederrichtung der Garnisonskirche demonstriert wird. Die christliche Entsprechung von Demonstrationen sind Prozessionen, in denen man das Allerheiligste (die Monstranz) durch die Straßen trägt. Beispielsweise im Fronleichnamszug zeigen sich die Katholiken in der Öffentlichkeit und demonstrieren ihre Glaubenshaltung. Dass diese Lesart in Bezug auf das Ende gewollt oder zumindest möglich ist, beweist die Teilnahme von Alexej, und vor allem die vorrangige Rolle der beiden Zwillinge, die in diesem Roman viele Beinamen bekommen.
Heike und Arnold werden von mehreren Personen als Engel benannt. Dies ist aus mehreren Gründen spannend. Der Autor Andrej Plesu schreibt: „So wie die Mönche ein irdisches Analogon der Engel sind, sind die Vögel ein Analogon der Mönche in der Natur.“ Dies erklärt das große Interesse der Zwillinge an Alexej und verbindet ihre Schicksale miteinander. Es bringt auch den Luisenplatz mit ins Spiel. Der Topos des Verkünders wird hier vom „Evangeliumshorst“ ausgefüllt, Alexej bekommt diese Funktion unverhofft, wenn er auf dem Kapellenberg nach den Gottesdiensten mit den Gläubigen redet und er zu seinem Erstaunen von ihnen verehrt wird – er strahlt für die Menschen ein Licht aus, das eine dunkle Kammer erstrahlen lässt. Die Obdachlosen am Luisenplatz sind wie die Vögel, die bei den alten Griechen als Lehrmeister der Glückseligkeit galten. In Matthäus Kapitel 6 heißt es: „Seht hin auf die Vögel des Himmels, dass sie nicht säen noch ernten, noch in Scheunen sammeln, und euer himmlischer Vater ernährt sie (doch). Seid ihr nicht viel vorzüglicher als sie? Wer aber unter euch kann mit Sorgen seiner (Lebens-) Länge eine Elle zusetzen?“ Also wieso arbeiten, wenn es auch anders geht? Die alleinerziehende Merle Johansson, deren Sohn Jesus heißt, deutet andere Möglichkeiten an: Sie lässt sich schwängern und in der Folge von einem Mann aushalten.
Doch zurück zu den Engeln: Sie sind Sendboten und Mittler zwischen Gott und Mensch. Diese Rolle üben auch Heike und Maurer in Potsdam aus. Sie verkünden nicht nur Gottes Wort, sondern sie richten auch. Nicht von ungefähr werden sie von Max Hornung in der „Oststadt“ Richter mit Nachnamen genannt. Wenn Grigorij davon erzählt, dass alle Menschen Engel sind, dann muss er sich auch eingestehen, dass es eine Hierarchie gibt: Thomas von Aquin schrieb, „dass die höheren Engel die niederen erleuchten und nicht umgekehrt.“ Von diesem Licht spricht auch der Bulgare, der in Heike diejenige entdeckt, die ihm das Licht gezeigt hat, und die er deswegen wie eine Madonna verehrt. Engel vermengen dunkel und hell, das Dunkle zeigt sich zum Beispiel an ihrer bürokratischen Funktion. Bei den Zwillingen zeigt sich das Dunkle allerdings an der Rolle, die sie im unterirdischen Tunnelsystem spielen. Es ist keineswegs so, dass nur Heike die Verführerin ist, sondern auch Arnold erfüllt diese Aufgabe. Gelegentlich werden sie Adam und Eva genannt, was in die Metaphorik des Luisenplatzes, des „Paradieses“, passt. Die beiden erinnern allerdings andererseits an die beiden Halb- bzw. Zwillingsbrüder Kastor und Pollux (in der griechischen Mythologie Kastor und Polydeukes), den beiden sagenumwobenen Dioskuren. Nach dem Tod des sterblichen Kastor, wird der unsterbliche Polydeukes von Zeus vor die Wahl gestellt, entweder ewig jung zu bleiben und unter den Göttern zu wohnen oder mit Kastor jeweils einen Tag im unterirdischen Reich des Hades (Reich der Toten) und einen Tag im Olymp bei den Göttern zu weilen und dabei zu altern und letztlich zu sterben. Ohne zu überlegen, wählt Polydeukes die zweite Variante und wandert von da an mit seinem Bruder zwischen dem Olymp und dem Hades. Auch hier könnte man eine Analogie zu Heike und Arnold finden.
„Der Glaube braucht keine Worte. Das heißt, der Glaubende braucht keine Worte.“ Dies sagt Alexej, der Schweigende. Die weltliche Gegenmeinung äußert Nils, ein Freund der Zwillinge: „Weißt du, was von der Welt ohne Reden übrigbleibt?“ In diesem Spannungsfeld bewegt sich der Roman von Andreas Maier. Der Glauben wird den Medien und dem Konsum entgegensetzt, das Schweigen und Meditieren dem Quasseln und Schreien, die innere Ruhe, das Licht in einem selbst, dem nach Außen Expandieren, dem Konsumieren. Als Beispiel kann hier Alexejs zufälliges Erscheinen bei der Eröffnung des neuen Karstadt gezählt werden. Der Autor leistet hier Kulturkritik auf andere Weise: Selbst das Ende, das man religiös lesen kann, endet mit einem filmischen Trick, einer Abblende, und symbolisiert den Sieg des Trivialen über das Geistige.
Es gibt Bücher, die einem ans Herz gehen, oder nach Kafka, das innere Eismeer in einem zum Schmelzen bringen. Es gibt aber auch Bücher, die man mit ein bisschen Distanz und auf intellektuelle Weise lesen muss, damit man seinen Spaß hat. Zum Letzteren zähle ich Andreas Maiers Werk. Gelegentlich muss man in der Literatur manche Abschnitte mehrmals lesen, um die Tragweite zu verstehen. Andreas Maier, der 2004 Stadtschreiber in Potsdam werden sollte – was allerdings in einem Fiasko endete, das an Sanssouci erinnert –, lässt die Leserin bzw. den Leser mit ihm durch das „sorgenfreie“ Potsdam, das für die menschlichen Abgründe steht, gehen (fast so wie die „Spaziergängerin“ Romy Schneider), dabei spart er nicht an Lichtgestalten und dunklen Geheimnissen. Ein Kopfkino für Menschen, die das Aufspüren einer Tiefe unter der Oberfläche schätzen.