Oben ist es still von Gerbrand Bakker

 

Ich sage es gleich zu Anfang: Das ist ein Buch, das man entweder liebt oder bald weglegt. In Holland wurde dieser Roman 2006 mit den zwei wichtigsten Preisen für literarische Debuts beehrt. Er wurde bereits für die Bühne adaptiert und gerade verfilmt. Doch worum geht es in dieser Geschichte?

Ein fünfundfünfzigjähriger Mann namens Helmer lebt auf einem Bauernhof. Der Roman beginnt damit, dass er seinen im Sterben liegenden Vater nach oben schleppt, ihm ein neues Zimmer herrichtet. Das ist erst der Anfang seiner Renovierungsaktion. Nach und nach dekoriert er um, kauft sich sogar ein neues Bett. Außenkontakte hat er kaum. Seine Nachbarin Ada besucht ihn, ihre beiden Söhne tauchen auf, manchmal kommt einer der beiden Milchmänner. Der eine von beiden ist alt und mürrisch, der andere ist ewig lächelnd und gut gelaunt. Die Zeit scheint still zu stehen. Dann kriegt er einen Brief von Riet, der ehemaligen Freundin seines verstorbenen Zwillingsbruders Henk, und es verändert sich etwas. Er denkt über sein Leben nach, erinnert sich an Henk, in dessen Bett er jahrelang geschlüpft ist, bis der Riet kennenlernte. Als diese ihren Führerschein bekommt, fahren Henk und sie spazieren. Da passiert ein Unglück: Henk verunglückt tödlich, Riet wird nach einigen Tagen von Helmers Vater aus dem Haus geschmissen. Fort an muss Helmer die Rolle des um Minuten älteren Bruders auf dem Bauernhof übernehmen. Sein begonnenes Studium in Amsterdam muss er beenden. Als Riet nach so langer Zeit wieder in sein Leben tritt, macht sie dies vor allem, weil sie seine Hilfe braucht. Sie möchte ihren Sohn Henk auf den Hof schicken, damit er sich als Knecht verdingt und wieder in die richtige Spur gerät. Der Junge baut sogar eine Beziehung zu dem Vater auf. Am Ende stirbt dieser und Helmer kriegt die Gelegenheit, wieder Luft zu bekommen, und seine erste Reise anzutreten.

Helmer ist ein merkwürdiger Mensch, ein Charakter, den manche vielleicht nicht verstehen können. In einem Alter, in dem Jungen rebellieren, ihre Selbständigkeit als wichtigste Priorität setzen, traut er sich nicht Nein zu sagen. Und lebt dann mit dieser Entscheidung. Jahrzehntelang. Sein despotischer Vater entscheidet zunächst, dass Henk den Hof beerbt, wahrscheinlich weil der zu einem bestimmten Zeitpunkt am richtigen Ort war, während Helmer gerade mit dem Knecht Jaap Schlittschuhlaufen ist. Henk ist immer schneller, beim Verlieben auch, er ist kommunikativer, robuster. Helmer ist sensibel. Er möchte Literatur studieren und wird sehr unfreiwillig Bauer. Dazu muss gesagt werden, dass man nach Lektüre des Klappentextes den Eindruck gewinnt, dass er erst seit kurzem unfreiwilligerweise Landwirt ist. Doch dem ist nicht so, da darf man sich nicht täuschen lassen. Das ist auch der Punkt, der kaum verstehbar ist. Wieso braucht er mehr als fünfunddreißig Jahre, um sich zu emanzipieren?

Nun wartet er darauf, dass sein Vater stirbt. Er versorgt ihn, mehr schlecht als recht. Wenn er Lust hat, gibt er ihm etwas zu essen, wenn er dazu kommt, bringt er ihn aufs Töpfchen, wenn es ihm passt, wäscht er ihn, gelegentlich auch mit kaltem Wasser. Er schottet ihn von den anderen ab. Wenn Ada zu Besuch kommt, sagt er, dass der Vater schläft. Helmer hat keinen Fernseher, er liest keine Bücher, er hat keine Hobbies. Helmer redet auch kaum etwas. Und so kommt es grundsätzlich zu merkwürdigen Unterhaltungen, in denen man mitliest, und in Gedanken schreit: Helmer, jetzt sag das und das in Gottesnamen! Aber nein, er tut es nicht. Mit seinem Vater hat er in seinem Leben keine vernünftige Unterhaltung geführt. Bis zum Schluss. Und da flammt dann der Gedanke auf, dass dieses Dahinsiechenlassen vielleicht sogar ein Liebesdienst an ihn ist.

Helmer war noch nie in Urlaub. Doch ihn fasziniert Dänemark. Er kauft sich eine schöne Landkarte, hängt sie sich in sein Schlafzimmer und lernt die Orte auswendig. Nur wenige Erlebnisse in seinem Leben scheinen ihm Freude gemacht zu haben. Und in allen kommt der ehemalige Knecht Jaap vor, der allerdings von seinem Vater gefeuert wird. Jaap brachte ihm das Schwimmen bei, ging mit ihm Schlittschuhlaufen. Nachdem der Knecht weg ist, besucht ihn Helmer noch ein paar Mal in dessen Häuschen. Beim letzten Besuch wird er von ihm auf den Mund geküsst. Dann zieht Jaap nach Dänemark… Am Ende des Buches, zufälligerweise gerade als der Vater verstorben ist, taucht der Knecht wieder auf, und nimmt Helmer mit auf eine Reise nach Jütland.

Dieses Buch ist eine Geschichte über ungestillte Sehnsucht. Helmer ist niemals über den Verlust seines Zwillingsbruders hinweggekommen. Er hat genauso wie sein „siamesischer Bruder“ Henk einfach aufgehört zu leben. Gerbrand Bakkers Mutter sagt, dass es ein deprimierendes Buch ist. Ich stimme ihr zu. Andere werden es witzig und skurril finden. Ganz sicher. Es kommt auf den Humor an, den man hat. Für den ein oder anderen ist das eine ganz fremde Welt, die beschrieben wird. Vielleicht warten die Leser etwas, erwarten, dass etwas passiert, warten aber vergeblich. Doch eines merkt man sofort: Dieses Buch ist ungewöhnlich gut geschrieben. Man kann es nicht recht in Worte fassen, doch die Sprache Bakkers, die von Andreas Ecke hervorragend ins Deutsche übertragen wurde, hat eine Klarheit, eine Präzision, eine Stilsicherheit, wie man sie selten findet.

Homosexualität wird sehr subtil angedeutet. Sie wird kein einziges Mal benannt, ist aber immer vorhanden. Auch diese lebt Helmer nie aus. Vielleicht am Schluss? Dass sein Vater ihn verdächtigt, schwul zu sein, erfahren wir gegen Schluss des Buches. Dass Jaap damit zu tun haben könnte, vermuten wir schon früher. Und was ist mit seinem Zwillingsbruder Henk? Und was ist mit Riets Sohn Henk, der für zwei Monate bei ihm weilt?

Dies ist kein Buch für Menschen, die ungeduldig sind. Es ist kein Buch für Menschen, die keine fünf Minuten Unzufriedenheit aushalten. Es ist aber ein Buch für Menschen, die kauzigen Humor mögen, die präzise Landschaftsbeschreibungen lieben und Hollywood-Geschichten hassen.

Der Roman „Oben ist es still“ von Gerbrand Bakker, welches übrigens von einem tollen Coverbild von Marcel ter Bekke geziert wird, ist ihm Suhrkamp Verlag erschienen. Es umfasst 314 Seiten und ist für 19,80 Euro im Fachhandel erhältlich.

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