Wenn Engel Zähne zeigen von Jonathan Carroll

 

In „Wenn Engel Zähne zeigen“ von Jonathan Carroll begegnen Sie dem Tod in all seinen Facetten und Verkörperungen. Aber beginnen wir sinnigerweise am Anfang: während eines Urlaubs auf Sardinien begegnet Ian McGann im Traum dem Tod in Gestalt eines verstorbenen Freundes. Der Tod verspricht ihm Antworten auf all seine Fragen, mit der Voraussetzung, dass er die Antworten auch versteht. Und da beginnt schon die Krux. Denn wenn er sie nicht versteht, muss er mit dem Leben bezahlen. Arlen Ford hingegen verlässt auf dem Höhepunkt ihres Erfolges in Hollywood das Land und zieht nach Wien, der Stadt des Stillstandes. Sie lebt nun zurückgezogen, fast schon wie eine Nonne, in kargen Verhältnissen. Plötzlich tritt ein Mann in ihr Leben, der sie fasziniert, magisch anzieht, von ihm geht eine unerklärliche Kraft aus. Auch in Wien weilt der unsterblich kranke, homosexuelle Moderator Wyatt Leonhard, der entdeckt, dass er Tote auferwecken kann. Die verschiedenen Handlungsstränge kulminieren und finden ein unerwartetes tragisches Ende in der österreichischen Hauptstadt.

Es gibt einen Grund, warum an diesem Ort dieses Buch rezensiert wird. Die Literaturkritik ist eine Dienstleistung, ein Service für die Leserin beziehungsweise den Leser. Sie soll im großen, unmöglich zu überschauenden Literaturmarkt Hilfestellung leisten. Neuveröffentlichungen werden gelesen und nach ihrer Tauglichkeit, nach ihrem Wert betrachtet. Die Literaturkritikerin beziehungsweise der Literaturkritiker liest eine Neuerscheinung und sagt, was den Rezipienten erwartet. Manchmal gibt es aber auch die Möglichkeit eines Rückgriffs. Vielleicht feiert ein Autor ein Jubiläum oder es gibt eine Neuübersetzung des Werkes. Aber auch wenn jemand den Eindruck hat, dass ein Autor wie Jonathan Carroll einfach zu wenig Beachtung kriegt, sollte es möglich sein, ein älteres Buch vorzustellen. Denn dieser Autor ist das auf jeden Fall Wert.

Jonathan Carroll hat viele verschiedene Fertigkeiten, die man in diesem Roman sehr deutlich erkennen kann: die Figuren sind sehr stark charakterisiert. Während in den meisten Romanen, die an diesem Ort rezensiert werden, sehr dünn gezeichnet werden, schafft es dieser Autor mit sehr viel Genauigkeit Persönlichkeiten zu kreieren, mit denen wir mitfühlen, die uns ans Herz wachsen, manchmal wollen wir sogar genauso sein wie sie. Doch manchmal trügt uns unser Gefühl, entsetzt stellen wir vielleicht am Ende fest, dass wir genauso nicht sein sollten. Der Autor beschreibt einzelne Situationen mit so einer Meisterschaft, dass man sich mitten im Geschehen findet. Carroll konstruiert seine Geschichten, er lässt bestimmte Dinge geschehen, deren Sinn man erst ein paar Seiten später erkennt oder oft erst am Ende des Romans. Anders als bei Hera Lind, bei der man genau vorhersagen kann, was am Ende geschieht, beginnt man in diesem Roman erst mit der Zeit zu verstehen – fast schon wie im wahren Leben. Man gerät in diesem Roman in einen Sog, der einen immer wieder weiter lesen lässt. Aber nicht weil es so gruselig ist oder weil es so spannend ist, sondern weil er einerseits Alpträume beschreibt, andererseits wir aber genau merken, dass diese unsere Realität sind und wir bereits in dieser Welt leben.

Dieser Roman ist ein wenig wie eine klassische griechische Tragödie: er ist gleichzeitig unendlich traurig und unendlich schön. Er berührt und erscheint liebevoll, doch die Frage, wie das Carroll bewerkstelligt, ist schwer zu beantworten. Vielleicht durch die stimmigen Beobachtungen, durch die vielen kleinen netten Anekdoten, die vielen Details, die Schönheit der Ausdrucksweise, die Langsamkeit der Sprache oder die ambivalenten Charaktere des Romans, mit denen man einfach Mitleid, nein, Mitgefühl haben muss.

Wann ist ein Buch in unserer Sendung ein Thema? Wenn Homosexuelle darin vorkommen. Es hört sich blöde an und ist es auch. Doch diese Voraussetzung ist gegeben: Wyatt Leonard ist schwul, nicht dass es wirklich wichtig für das Buch wäre, aber so manche Situation wäre eine andere in diesem Roman, also besitzt diese Eigenschaft Wyatts eine Relevanz. Wie gesagt: ob es so genannte „Schwulen-Bücher“ gibt, ist eine Frage. Eine wichtigere Kategorie ist allerdings diejenige, ob ein Werk lesenswert ist oder nicht. Und das kann bei diesem fesselnden Roman auf jeden Fall klar mit: „es ist sehr lesenswert“ beantwortet werden. In diesem Sinne wünsche ich viel Vergnügen!

Der Roman „Wenn Engel Zähne zeigen“ von Jonathan Carroll ist 1995 im Europaverlag erschienen, umfasst 264 Seiten und ist in einer Hardcover Ausgabe für rund 20 Euro mit Glück im Fachhandel erhältlich, oder als broschiertes Taschenbuch im btb Verlag im Jahre 1997 in einem Umfang von 253 Seiten erschienen und damit etwas billiger.

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