Wer sind die zwei Mädchen?
Auf der einen Seite steht die rebellische Behiye, eine kluge Sechzehnjährige, die mühelos den Aufnahmetest für die Uni besteht und mit dem Studieren beginnen könnte. Sie ist zornig, depressiv, fühlt sich in ihrer Welt eingesperrt. Sie schämt sich für ihre tolpatschige Mutter, für ihre Familie, für ihre Gewöhnlichkeit. Ihre Welt sind die Bücher, die sie verschlingt, die Musik, die sie hört, Linkin Park gehört dazu, Sum 41 und alles andere, was in den Bereich Nu-Metal und Punk-Rock geht. Es geht ihr um Authentizität, um Wahrheit versus Verlogenheit, um echte Moral. Aber sie möchte auch abnehmen und so dünn werden, dass sie durch ein Nadelöhr passt.
Auf der anderen Seite befindet sich Handan, ein sechzehnjähriges Girlie, das in einer Soap-Opera lebt. Sie liebt sowohl die Musik von Britney Spears als auch ihren „Style“. Sie sieht rosa und wie eine Lolita aus. Ihre fünfunddreißigjährige Mutter Leman nicht minder: Sie sieht aus wie ein japanisches Girlie und lässt sich von Männern aushalten. Weder Handan noch Leman können kochen. Sie sind beide nicht lebenstüchtig oder scheinen es zumindest. Ihr Leben dreht sich um MTV, schöne Kleider, Taschen und Schuhe, sie gehen fast täglich zum Frisör und ins Einkaufszentrum. Handan muss einen Vorbereitungskurs für die Universität besuchen, weil sie die Aufnahmeprüfung nicht besteht.
Bei der Anmeldung zu den Vorbereitungskursen lernen sich dann Handan und Behiye kennen, da letztere ihrer Freundin Çiğdem beisteht, die ebenfalls zu schwache Ergebnisse geliefert hatte. Behiye ist auf der Stelle hin und weg von der süßen Handan, dem kleinen Mädchen, das sie bekochen und beschützen möchte. Sie nistet sich also bei Handan und Leman ein und versteht nicht, dass sie Mutter dies mit immer unverhohlenerer Skepsis verfolgt. Als dann Jungs in das Leben der beiden Mädchen treten, spitzt sich die Situation zu und es passieren Dinge, die keiner erwartete. Dies alles spielt sich in nur neunzehn Tagen ab, die aber Behiye wie ein Jahr vorkommen.
Faszinierend ist, dass die zwei so verschiedenen Mädchen nur auf den ersten Blick so erscheinen, wie es die Inhaltsangabe dieses Romans darstellt. Am Ende des Romans stellt sich beispielsweise die Frage, wer von den beiden die so genannte Starke und wer die Schwache von beiden ist. Behiye, die anfangs sehr zornig ist, ständig ausflippt, ihre Mutter anschreit? Handan, die so naiv und rosa erscheint, mit Babystimme spricht und sich nur um Oberflächlichkeiten kümmert. Behiye, die Punk anhört und die gesellschaftlichen Verhältnisse anprangert, die das Zepter für die beiden in die Hand nimmt? Handan, die ihre Mutter an die Hand nimmt, die am Ende etwas tut, was keiner von ihr erwartet hätte, am wenigsten Behiye?
Dieser Roman beeindruckt deswegen so sehr, weil die Erzählerin es schafft, in die Welten der beiden sechzehnjährigen einzudringen, als wäre es das, was sie selbst fühlt und denkt. Dabei spiegelt sie ein Bild der Türkei wieder, dass die meisten Deutschen nicht als solches annehmen. Dieses Buch, das in Istanbul spielt, könnte genauso gut in einer anderen Metropole Europas spielen.
Doch wer ist diese Autorin namens Perihan Mağden, die sich so souverän und gekonnt im Leben ihrer Figuren bewegt?
Sie ist vielleicht die spannendste Autorin und Journalistin der Türkei. Mit ihrer Kolumne in der Zeitung „Radikal“ hat sie in den letzten Jahren sehr viel Aufsehen erregt. Mit ihrer Kolumne in der Zeitung „Yeni Aktüel“, in der sie im Dezember 2005 proklamierte, dass Kriegsdienstverweigerung ein Menschenrecht sei, geriet sie allerdings nicht nur in die Schlagzeilen, sondern auch ins Fadenkreuz der türkischen Regierung und Polizei. Sie wurde in Haft genommen. Die 1960 in der Türkei geborene Perihan Mağden wird vom türkischen Friedensnobelpreisträger hoch gelobt: Sie nehme keinen Blatt vor dem Mund und sei eine der originellsten Schriftstellerinnen unserer Zeit. Die Autorin und Journalistin lässt sich nicht den Mund verbieten und das ist gut so. Wir werden auch in Zukunft noch mehr von ihr lesen und über sie erfahren, hat doch der Suhrkamp-Verlag den festen Vorsatz, noch mehr ihrer Bücher ins Deutsche zu übersetzen und zu verlegen.
Nicht minder spannend als die Charakterisierung der Figuren ist die Frage, ob dieser Roman, der bereits im Jahre 2002 in der Türkei erschienen ist und 2005 verfilmt wurde, ist die Frage danach, ob dies ein Kriminalroman ist oder nicht. Dafür spricht der Anfang des Buches, der mit dem Finden einer männlichen Leiche beginnt. Dagegen vielleicht, dass niemand im Buch auftaucht, der in den Mordfällen ermittelt. Spannend sind die Beschreibungen der Leichenfunde allemal. In einem Fall findet der Hund Badi eines am frühen Morgen joggenden Yuppie-Paares den Ermordeten, was ihnen sehr unangenehm ist.
Der junge Mann möchte Badi am liebsten umbringen, weil er ihnen den Tag versaut hat, weil er ihnen das ganze Leben versaut hat, …, er möchte ihn eliminieren.
Sie weint und übergibt sich: zweieinhalb Jahre Arbeit für die Katz! Für dieses Jahr waren Hochzeit und Baby geplant. Jetzt wird sie nicht einmal mehr seinen Kopf streicheln können. Nicht seine Hand halten. Die Tatsache, dass sie zusammen einen Toten gesehen haben, hat ihre sorgfältig aufgebaute Beziehung vollständig ruiniert.
Zunächst befindet sich Behiye immer in einem von drei Zuständen.
Ziellos läuft Behiye durch die Straßen und denkt darüber nach, dass kein Zustand außer Traurigkeit, Verzweiflung und Wut sie jemals in sich aufnehmen, sie akzeptieren wird, dass sie für immer in diese drei Zustände eingezwängt sein wird und welch schwere und bittere Gefangenschaft das ist.
Dann hat sie plötzlich eine Vorahnung eines anderen Gefühls. Und da trifft sie auf Handan. Doch auch das kann sie nicht vor der Wut und der Depression bewahren, denn die fantasierte Nähe mit ihrer neuen Freundin ist anderer Qualität, als sie sich das erhofft hat. Ihr Zorn keimt immer wieder auf. Sie möchte mit Handan nach Australien fliehen. So beklaut sie ihren Bruder, der sie fortan verfolgt. Sie kauft sich ein Skalpell, das sie auch einsetzen möchte. Aber tut sie es auch?
Spannend ist, wie Mağden für die Charakterisierung ihrer Figuren das Lebensgefühl der Teenies einsetzt, vor allem den Bereich Musik. Einerseits fühlt sich Behiye angeekelt von Handans Lieblingssängerin Britney Spears und alles, was diese symbolisiert. Schlimmer geht es ihr noch mit der türkischen „Schmalzmusik“, die Handan und ihre Mutter Leman anhören, wenn nicht gerade MTV läuft. Als sich Behiye in Handan verliebt, beginnt sie plötzlich bei diesen Liedern mitzusummen und gar mitzusingen. Plötzlich erträgt sie es diese Musik stundenlang anzuhören. Erim, der Verehrer von Handan, fährt einen Mitsubishi Lancer, was diese sehr beeindruckt. Behiye hingegen fühlt sich auch von ihm, seinen Freunden und den ganzen Protzereien angeekelt.
Der Roman „Zwei Mädchen. Istanbul-Story“ ist absolut lesenswert und spannend. Ich kann ihn und seine Autorin nur jedem wärmstens empfehlen, der intensive, tiefgründige Literatur lesen möchte. Ich kann dies aber auch allen anderen empfehlen, die aus politischer Interessiertheit heraus, einen authentischen Text über die Türkei lesen möchte, die ja Gast der diesjährigen Buchmesse ist.
Der Roman „Zwei Mädchen. Istanbul-Story“ von Perihan Mağden umfasst 329 Seiten, ist beim Suhrkamp Verlag erschienen und für 9,90 Euro im Fachhandel zu beziehen.