In meinem Spanienland von Gabi Kreslehner

 

Nun, da saß ich in der Bahn und las und war einfach traurig und legte das Buch weg und dachte an den schönsten Mann der Welt, weil ich den ja zwei Tage nicht sehen würde, und kehrte wieder zu Carmen zurück und litt mit „dem Mensch“ mit und die Tränen kamen mir und ich saß da im Pendlerverkehr und es war schon ein bisschen peinlich, ach, was dachte ich mir, Gefühle zeigen ist nicht peinlich, und wenn das ein Buch schafft, dass die Tränen hervorgequetscht werden, dann muss das ein gutes Buch sein, so dachte ich mir, und dann dachte ich wieder an den schönsten Mann der Welt und wusste, dass ich großes Glück habe und dass das gerne so bleiben darf….

Manchmal gibt es Bücher, die einen berühren, manchmal ist es der Inhalt, der einem so rührig daherkommt, manchmal ist es die Sprache, die einen baumeln lässt, die einen fängt, die einen durchschüttelt, die einen erregt, beschäftigt, durchdringt, wühlt und auskotzt… So eines ist Gabi Kreslehners „In meinem Spanienland“, so eines ist das, ja, auf jeden Fall!

Juli träumte vom Fliegen, lief durch die Stadt und träumte vom Fliegen hoch in der Luft, hoch über dem Boden, wie die Vögel so weit und hinein in den Himmel und über die Wolken hinaus und weiter und weiter und müde werden niemals und niemals sich ausruh´n!
Juli träumte vom Fliegen und endlich beschloss sie, es endlich zu tun. Ich fliege, sagte sie zu Carmen, hoch zu Klara. Ich fliege euch davon, sagte sie zu Daniel und allen, die es hören wollten. Die lachten sie aus. Die Juli, lachten sie, ach, die Juli will fliegen. Wohin denn? Wie denn? Juli! Willst fliegen und fliegen und weißt nicht, wie´s geht! Juli nickte. Doch weiß ich, wie´s geht! Juli ging durch die Straßen, langsamen Schrittes, heim in die Wohnung im fünften Stock, hoch zum Dachboden, da sperrte sie auf, da ging sie zur Dachluke, da steig sie hinaus. Die Frühherbstwinde wehten, hoben sie hoch, ließen sie fliegen.

Was macht dieses Buch zu einem, das an dieser Stelle unbedingt besprochen, von Radiosub unbedingt empfohlen werden muss? Mir würde diese ungewöhnliche Sprache ausreichen, die diese gewöhnliche Geschichte zu einer besonderen macht, diese Sprache, die keine Vorurteile und keine Wertungen kennt, die einfach erzählt, ohne moralisch zu werden, obwohl so viele unmoralische Thematiken beschrieben werden. Doch mehr als das ist die Freundschaft zwischen Stefanie, der Mutter von Carmen, und dem schwulen Polizeiwachtmeister relevant für Radiosub. Eine Freundschaft, die im Laufe des Buches immer mehr Raum einnimmt, weil Stefanie ihn als einzige akzeptiert in diesem österreichischen Kaff, ihn unterstützt, bis er in den Armen von Paul, einem Physiker, seine große Liebe findet. Er, der Polizist, der von seinen Kollegen veralbert wird, ob seiner Homosexualität, und bestaunt wird, weil er so viel mit Stefanie, dem tollen Weib zu tun hat, das alle bewundern.

Die Autorin fragte mich, ob sie sich Klischees bedient hat, als sie die Geschichte der beiden Liebenden erzählt, ob sie etwas geschrieben hat, das mich als Homosexuellen abstoßen könnte, entweder weil es nicht der Realität entspräche oder weil es mich beleidigen könnte. Aber nein, musste ich antworten, aber nein, nirgends ist das Buch wertend, auch hier nicht. Doch lenken wir unser Augenmerk auf die größte Besonderheit dieses Buches, der poetischen Sprache, der wirklichen Besonderheit, der glücklich machenden:

Juli, hab ich gefragt, sagt Carmen, Juli, meine Juli, hast du den Mond berührt und die Sterne und haben sie dich kühl gemacht und ruhig?
Juli, meine Juli, hab ich gefragt, sagt Carmen, hab ich geflüstert und gebrüllt, Juli, meine Juli, warum und weshalb nicht geblieben und Träume sind zum Träumen und sonst doch zu nichts!

In meinem Spanienland der Österreicherin Gabi Kreslehner ist im Picus-Verlag erschienen, und zwar im Februar 2010, umfasst gebundene 197 Seiten und kostet 19,90 Euro.

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Zwei Mädchen. Istanbul Story von Perihan Mağden

 

Wer sind die zwei Mädchen?

Auf der einen Seite steht die rebellische Behiye, eine kluge Sechzehnjährige, die mühelos den Aufnahmetest für die Uni besteht und mit dem Studieren beginnen könnte. Sie ist zornig, depressiv, fühlt sich in ihrer Welt eingesperrt. Sie schämt sich für ihre tolpatschige Mutter, für ihre Familie, für ihre Gewöhnlichkeit. Ihre Welt sind die Bücher, die sie verschlingt, die Musik, die sie hört, Linkin Park gehört dazu, Sum 41 und alles andere, was in den Bereich Nu-Metal und Punk-Rock geht. Es geht ihr um Authentizität, um Wahrheit versus Verlogenheit, um echte Moral. Aber sie möchte auch abnehmen und so dünn werden, dass sie durch ein Nadelöhr passt.

Auf der anderen Seite befindet sich Handan, ein sechzehnjähriges Girlie, das in einer Soap-Opera lebt. Sie liebt sowohl die Musik von Britney Spears als auch ihren „Style“. Sie sieht rosa und wie eine Lolita aus. Ihre fünfunddreißigjährige Mutter Leman nicht minder: Sie sieht aus wie ein japanisches Girlie und lässt sich von Männern aushalten. Weder Handan noch Leman können kochen. Sie sind beide nicht lebenstüchtig oder scheinen es zumindest. Ihr Leben dreht sich um MTV, schöne Kleider, Taschen und Schuhe, sie gehen fast täglich zum Frisör und ins Einkaufszentrum. Handan muss einen Vorbereitungskurs für die Universität besuchen, weil sie die Aufnahmeprüfung nicht besteht.

Bei der Anmeldung zu den Vorbereitungskursen lernen sich dann Handan und Behiye kennen, da letztere ihrer Freundin Çiğdem beisteht, die ebenfalls zu schwache Ergebnisse geliefert hatte. Behiye ist auf der Stelle hin und weg von der süßen Handan, dem kleinen Mädchen, das sie bekochen und beschützen möchte. Sie nistet sich also bei Handan und Leman ein und versteht nicht, dass sie Mutter dies mit immer unverhohlenerer Skepsis verfolgt. Als dann Jungs in das Leben der beiden Mädchen treten, spitzt sich die Situation zu und es passieren Dinge, die keiner erwartete. Dies alles spielt sich in nur neunzehn Tagen ab, die aber Behiye wie ein Jahr vorkommen.

Faszinierend ist, dass die zwei so verschiedenen Mädchen nur auf den ersten Blick so erscheinen, wie es die Inhaltsangabe dieses Romans darstellt. Am Ende des Romans stellt sich beispielsweise die Frage, wer von den beiden die so genannte Starke und wer die Schwache von beiden ist. Behiye, die anfangs sehr zornig ist, ständig ausflippt, ihre Mutter anschreit? Handan, die so naiv und rosa erscheint, mit Babystimme spricht und sich nur um Oberflächlichkeiten kümmert. Behiye, die Punk anhört und die gesellschaftlichen Verhältnisse anprangert, die das Zepter für die beiden in die Hand nimmt? Handan, die ihre Mutter an die Hand nimmt, die am Ende etwas tut, was keiner von ihr erwartet hätte, am wenigsten Behiye?

Dieser Roman beeindruckt deswegen so sehr, weil die Erzählerin es schafft, in die Welten der beiden sechzehnjährigen einzudringen, als wäre es das, was sie selbst fühlt und denkt. Dabei spiegelt sie ein Bild der Türkei wieder, dass die meisten Deutschen nicht als solches annehmen. Dieses Buch, das in Istanbul spielt, könnte genauso gut in einer anderen Metropole Europas spielen.

Doch wer ist diese Autorin namens Perihan Mağden, die sich so souverän und gekonnt im Leben ihrer Figuren bewegt?

Sie ist vielleicht die spannendste Autorin und Journalistin der Türkei. Mit ihrer Kolumne in der Zeitung „Radikal“ hat sie in den letzten Jahren sehr viel Aufsehen erregt. Mit ihrer Kolumne in der Zeitung „Yeni Aktüel“, in der sie im Dezember 2005 proklamierte, dass Kriegsdienstverweigerung ein Menschenrecht sei, geriet sie allerdings nicht nur in die Schlagzeilen, sondern auch ins Fadenkreuz der türkischen Regierung und Polizei. Sie wurde in Haft genommen. Die 1960 in der Türkei geborene Perihan Mağden wird vom türkischen Friedensnobelpreisträger hoch gelobt: Sie nehme keinen Blatt vor dem Mund und sei eine der originellsten Schriftstellerinnen unserer Zeit. Die Autorin und Journalistin lässt sich nicht den Mund verbieten und das ist gut so. Wir werden auch in Zukunft noch mehr von ihr lesen und über sie erfahren, hat doch der Suhrkamp-Verlag den festen Vorsatz, noch mehr ihrer Bücher ins Deutsche zu übersetzen und zu verlegen.

Nicht minder spannend als die Charakterisierung der Figuren ist die Frage, ob dieser Roman, der bereits im Jahre 2002 in der Türkei erschienen ist und 2005 verfilmt wurde, ist die Frage danach, ob dies ein Kriminalroman ist oder nicht. Dafür spricht der Anfang des Buches, der mit dem Finden einer männlichen Leiche beginnt. Dagegen vielleicht, dass niemand im Buch auftaucht, der in den Mordfällen ermittelt. Spannend sind die Beschreibungen der Leichenfunde allemal. In einem Fall findet der Hund Badi eines am frühen Morgen joggenden Yuppie-Paares den Ermordeten, was ihnen sehr unangenehm ist.

Der junge Mann möchte Badi am liebsten umbringen, weil er ihnen den Tag versaut hat, weil er ihnen das ganze Leben versaut hat, …, er möchte ihn eliminieren.

Sie weint und übergibt sich: zweieinhalb Jahre Arbeit für die Katz! Für dieses Jahr waren Hochzeit und Baby geplant. Jetzt wird sie nicht einmal mehr seinen Kopf streicheln können. Nicht seine Hand halten. Die Tatsache, dass sie zusammen einen Toten gesehen haben, hat ihre sorgfältig aufgebaute Beziehung vollständig ruiniert.

Zunächst befindet sich Behiye immer in einem von drei Zuständen.

Ziellos läuft Behiye durch die Straßen und denkt darüber nach, dass kein Zustand außer Traurigkeit, Verzweiflung und Wut sie jemals in sich aufnehmen, sie akzeptieren wird, dass sie für immer in diese drei Zustände eingezwängt sein wird und welch schwere und bittere Gefangenschaft das ist.

Dann hat sie plötzlich eine Vorahnung eines anderen Gefühls. Und da trifft sie auf Handan. Doch auch das kann sie nicht vor der Wut und der Depression bewahren, denn die fantasierte Nähe mit ihrer neuen Freundin ist anderer Qualität, als sie sich das erhofft hat. Ihr Zorn keimt immer wieder auf. Sie möchte mit Handan nach Australien fliehen. So beklaut sie ihren Bruder, der sie fortan verfolgt. Sie kauft sich ein Skalpell, das sie auch einsetzen möchte. Aber tut sie es auch?

Spannend ist, wie Mağden für die Charakterisierung ihrer Figuren das Lebensgefühl der Teenies einsetzt, vor allem den Bereich Musik. Einerseits fühlt sich Behiye angeekelt von Handans Lieblingssängerin Britney Spears und alles, was diese symbolisiert. Schlimmer geht es ihr noch mit der türkischen „Schmalzmusik“, die Handan und ihre Mutter Leman anhören, wenn nicht gerade MTV läuft. Als sich Behiye in Handan verliebt, beginnt sie plötzlich bei diesen Liedern mitzusummen und gar mitzusingen. Plötzlich erträgt sie es diese Musik stundenlang anzuhören. Erim, der Verehrer von Handan, fährt einen Mitsubishi Lancer, was diese sehr beeindruckt. Behiye hingegen fühlt sich auch von ihm, seinen Freunden und den ganzen Protzereien angeekelt.

Der Roman „Zwei Mädchen. Istanbul-Story“ ist absolut lesenswert und spannend. Ich kann ihn und seine Autorin nur jedem wärmstens empfehlen, der intensive, tiefgründige Literatur lesen möchte. Ich kann dies aber auch allen anderen empfehlen, die aus politischer Interessiertheit heraus, einen authentischen Text über die Türkei lesen möchte, die ja Gast der diesjährigen Buchmesse ist.

Der Roman „Zwei Mädchen. Istanbul-Story“ von Perihan Mağden umfasst 329 Seiten, ist beim Suhrkamp Verlag erschienen und für 9,90 Euro im Fachhandel zu beziehen.

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Weekend Sex von Mario Dieringer

 

Der Autor Mario Dieringer will mit seinem Buch „Weekendsex“ unterhalten, aber auch helfen. Deshalb stellt er die Erlöse aus dem Verkauf der Jahre 2008 und 2009 in vollem Umfang dem Verein bHIVore e.V. zur Verfügung.

Doch bevor der Autor dazu mehr sagen darf, möchte ich sein Buch vorstellen. Dank seiner Kürze von 124 Seiten, habe ich hier die Möglichkeit, auf viele der Texte einzugehen. In der ersten Geschichte befinden wir uns in einer U-Bahn und beobachten die Menschen, die hineinkommen. Bald sehen wir uns einem Hetero-Pärchen gegenüber, das aus einer schlechten RTL 2-Sendung entstiegen sein könnte. Die Frau trägt schwarze Leggings und hat ein ganz tief ausgeschnittenes Dekolleté, das nur das Nötigste verdeckt. Dicke Lippen, ein Überbiss sonders gleichen und eine blonde wallende Löwenmähne. Dem Mann kleben die langen fettigen Haare am aufgerissenen Kragen der Lederjacke. Er trägt eine knallenge Jeans, ein verblichenes T-Shirt über der Hühnerbrust und spitze, schwarze, ausgelatschte Cowboystiefel. Lautstark reden die beiden über Ihr Sexualleben, so dass es schwer fällt, es nicht mit anzuhören. Die unfreiwilligen Zeugen dieser Unterhaltung verlassen traumatisiert und verstört die U-Bahn. Nicht weniger amüsant ist die Geschichte „Das erste Mal“, in der ein fünfundzwanzigjähriger Mann davon berichtet, wie seine Versuche scheitern, das erste Mal in seinem Leben mit einem Mann Sex zu haben. Mario Dieringer schildert lustig und mit sehr viel Wiedererkennungswert diese Erlebnisse.

Weekendsex beschreibt die Summe der gesammelten Erfahrungen in der grotesken Realität unser aller Tages- und Lebensabläufe. Dabei hat er ein besonderes Augenmerk auf die Tatsache gelegt, dass Menschen in der heutigen Zeit sehr viel Zeit mit neuen Medien verbringen.

Dieringer glaubt zu Recht, dass die neuen Medien unser Leben auf noch ungeahnte Weise verändert haben. Die Wissenschaften müssen erst erforschen, inwieweit sich bereits jetzt, eine Realität entwickelt hat, die sich von der vor zwanzig Jahren grundlegend unterscheidet. Wie verlieben sich beispielsweise Menschen heutzutage? Die Geschichten über Menschen, die sich aus dem Internet kennen, und sich als Paar bezeichnen, obwohl sie sich noch nie im wahren Leben begegnet sind, häufen sich. In den Augen von jüngeren Menschen wird hier kein Qualitätsunterschied zur gewöhnlichen Art des Kennenlernens bemerkt. Unsere Realität hat sich bereits gewandelt. Geschichten wie in „Gut gegen Nordwind“ von Daniel Glattauer sind heutzutage möglich. Menschen bauen sich eine Parallelwelt auf, in der sie aufblühen können.

Bei Schwulen ist die Plattform, in der sie diese Parallelwelt aufbauen, Gayromeo. Hier möchten sie ihren Mann fürs Leben kennenlernen, sich einen Freundeskreis aufbauen und meistens einfach ihren Trieben nachgehen und ein Sex-Date ausmachen. Die Möglichkeiten, sich interessant und attraktiv zu machen, sind zahlreich: Bilder vom besten Stück zählen dazu, aber auch kreativ ausgedachte Headlines. Die witzigsten, interessantesten oder sexuellsten Beispiele hat Mario Dieringer in den Zwischentexten Headlines 1 – 6 zusammengetragen.

„Wenn ich online bin, suche ich meist ein livedate am liebsten Outdoor oder bei mir in meiner Nähe. Bin gerne passiv“ – „Alles kann nix muss“ – „Mens Sana in Campari Soda“ – „Sei geweckt, Du Interesse, Du!“ – „Echte XXL Hengste gesucht“ – „Was ich hier will, finds heraus!“ usw.

Im letzten Text „Log out“ beschreibt Dieringer, wie sich ein Mensch fühlt, der sich in diesem Forum bewegt, mit welchem Frust er zu kämpfen hat. Am Ende trifft er für sich die Entscheidung, dem Ganzen zu entfliehen und sich wieder der herkömmlichen Art, jemanden kennenzulernen, anzunähern.

In weiteren Texten beschäftigt sich der Autor mit vielen Themen, die den schwulen Mann von heute bewegen: In „Partnertest“ gibt er Tipps, worauf man achten sollte, wenn man einen potenziellen Beziehungspartner kennenlernt. In „Affäre“ berichtet er den Alltag eines Mannes, der Geliebter eines Menschen ist, der in einer Beziehung lebt. In „Erinnerungsbilder“ erzählt er vom nächsten Morgen nach einem Besäufnis, das zum Filmriss führte. „Heiratswillig“ begeistert mit der witzigen Schilderung eines stressigen Alltags eines Mannes, der verzweifelt auf der Suche nach seinem Mister Right ist. Letztendlich bemerkt er, dass er doch in Wirklichkeit nur seinen Spaß sucht. Die „Scheiß Bratwurst“ beendet eine Beziehung? Nun, Mario Dieringer reflektiert in diesem Text, wie es zum Ende einer Beziehung kommt, und erklärt, dass manchmal Kleinigkeiten zum Ausbruch führen. Eine altbekannte Weisheit, die aber immer wieder neu gefühlt wird.

Das Buch wird aufgelockert durch Gedichte und Karikaturen des Autoren, die das kleine Sammelsurium von Alltagsbeobachtungen liebevoll komplettieren.

Erschienen ist das Buch unter der ISBN: 3837067602 im BoD-Verlag und kostet 11,99 Euro. Erhältlich ist es im regulären und im Online-Buchhandel.

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Sanssouci von Andreas Maier

 

„Das Paradies ist voller Geschichten, die jeder über jeden erzählt und in denen es weder Wahrheit noch Unwahrheit gibt, sondern alles zusammen wahr ist…“

Dies sagt eine Figur aus Andreas Maiers viertem Roman Sanssouci und gibt damit die Marschrichtung des Textes vor: Der Autor setzt seine im 2005 erschienenen Buch Kirilow schon eingesetzte Stil des Bramarbasierens fort, dem beinahe undurchschaubaren fortwährenden Gequassel und Gerede der Figuren. Diesmal wird es verglichen mit dem Singen der Vögel und zumindest vom „Evangeliusmhorst“ als Wort Gottes angesehen, was er am Luisenplatz, dem „Paradies“, äußert.

Das Schwatzen beginnt schon auf der in Frankfurt stattfindenden Beerdigungsfeier Max Hornungs, dem West-Regisseur, der in den Osten ging, um die Serie „Oststadt“ zu drehen. Die Lebensgeschichten der Gäste, die aus Potsdam anreisen, sind miteinander verwoben und sie teilen einige mehr oder wenige dunkle Geheimnisse. Der russisch-orthodoxe Mönch Alexej begibt sich in die Ostprovinz und nimmt an dem Leben derjenigen teil, die sein verstorbener Freund Max in seiner Serie porträtierte und damit für sehr viel Aufruhr sorgte. In einem Erzählreigen gewinnt die Leserin bzw. der Leser immer mehr Einblicke in diese teils lichte, teils dunkle Welt. Von christlichem Glauben ist hier die Rede, von Moral und Anstand, aber auch vom Gegenteil: Dem Tunnelsystem unter dem Park von Sanssouci mit seinen weitverzweigten Räumen und den S/M-Sitzungen, die darin abgehalten werden, und vom Sozialschmarotzertum.

Andreas Maier stellt seinem Roman einen Ausschnitt aus der Apostelgeschichte aus dem Kapitel Der Aufstand des Demetrius  voran: „Die einen nun schrien dies, die anderen jenes; denn die Versammlung war in Verwirrung, und die meisten wußten nicht, weshalb sie zusammengekommen waren.“ Die Beerdigungsfeier ist die erste chaotisch verlaufende Versammlung, die der 1967 in Bad Nauheim geborene Autor beschreibt. Der Tumult beginnt, wenn die eigenwilligen Zwillinge Heike und Arnold, auftauchen. Im weiteren Verlauf kommt es zu weiteren Zusammentreffen mit Diskussionen, egal, ob im Stadtrat oder auf dem Luisenplatz. Der Höhepunkt folgt am Ende des Romans, wenn gegen die Wiederrichtung der Garnisonskirche demonstriert wird. Die christliche Entsprechung von Demonstrationen sind Prozessionen, in denen man das Allerheiligste (die Monstranz) durch die Straßen trägt. Beispielsweise im Fronleichnamszug zeigen sich die Katholiken in der Öffentlichkeit und demonstrieren ihre Glaubenshaltung. Dass diese Lesart in Bezug auf das Ende gewollt oder zumindest möglich ist, beweist die Teilnahme von Alexej, und vor allem die vorrangige Rolle der beiden Zwillinge, die in diesem Roman viele Beinamen bekommen.

Heike und Arnold werden von mehreren Personen als Engel benannt. Dies ist aus mehreren Gründen spannend. Der Autor Andrej Plesu schreibt: „So wie die Mönche ein irdisches Analogon der Engel sind, sind die Vögel ein Analogon der Mönche in der Natur.“ Dies erklärt das große Interesse der Zwillinge an Alexej und verbindet ihre Schicksale miteinander. Es bringt auch den Luisenplatz mit ins Spiel. Der Topos des Verkünders wird hier vom „Evangeliumshorst“ ausgefüllt, Alexej bekommt diese Funktion unverhofft, wenn er auf dem Kapellenberg nach den Gottesdiensten mit den Gläubigen redet und er zu seinem Erstaunen von ihnen verehrt wird – er strahlt für die Menschen ein Licht aus, das eine dunkle Kammer erstrahlen lässt. Die Obdachlosen am Luisenplatz sind wie die Vögel, die bei den alten Griechen als Lehrmeister der Glückseligkeit galten. In Matthäus Kapitel 6 heißt es: „Seht hin auf die Vögel des Himmels, dass sie nicht säen noch ernten, noch in Scheunen sammeln, und euer himmlischer Vater ernährt sie (doch). Seid ihr nicht viel vorzüglicher als sie? Wer aber unter euch kann mit Sorgen seiner (Lebens-) Länge eine Elle zusetzen?“ Also wieso arbeiten, wenn es auch anders geht? Die alleinerziehende Merle Johansson, deren Sohn Jesus heißt, deutet andere Möglichkeiten an: Sie lässt sich schwängern und in der Folge von einem Mann aushalten.

Doch zurück zu den Engeln: Sie sind Sendboten und Mittler zwischen Gott und Mensch. Diese Rolle üben auch Heike und Maurer in Potsdam aus. Sie verkünden nicht nur Gottes Wort, sondern sie richten auch. Nicht von ungefähr werden sie von Max Hornung in der „Oststadt“ Richter mit Nachnamen genannt. Wenn Grigorij davon erzählt, dass alle Menschen Engel sind, dann muss er sich auch eingestehen, dass es eine Hierarchie gibt: Thomas von Aquin schrieb, „dass die höheren Engel die niederen erleuchten und nicht umgekehrt.“ Von diesem Licht spricht auch der Bulgare, der in Heike diejenige entdeckt, die ihm das Licht gezeigt hat, und die er deswegen wie eine Madonna verehrt. Engel vermengen dunkel und hell, das Dunkle zeigt sich zum Beispiel an ihrer bürokratischen Funktion. Bei den Zwillingen zeigt sich das Dunkle allerdings an der Rolle, die sie im unterirdischen Tunnelsystem spielen. Es ist keineswegs so, dass nur Heike die Verführerin ist, sondern auch Arnold erfüllt diese Aufgabe. Gelegentlich werden sie Adam und Eva genannt, was in die Metaphorik des Luisenplatzes, des „Paradieses“, passt. Die beiden erinnern allerdings andererseits an die beiden Halb- bzw. Zwillingsbrüder Kastor und Pollux (in der griechischen Mythologie Kastor und Polydeukes), den beiden sagenumwobenen Dioskuren. Nach dem Tod des sterblichen Kastor, wird der unsterbliche Polydeukes von Zeus vor die Wahl gestellt, entweder ewig jung zu bleiben und unter den Göttern zu wohnen oder mit Kastor jeweils einen Tag im unterirdischen Reich des Hades (Reich der Toten) und einen Tag im Olymp bei den Göttern zu weilen und dabei zu altern und letztlich zu sterben. Ohne zu überlegen, wählt Polydeukes die zweite Variante und wandert von da an mit seinem Bruder zwischen dem Olymp und dem Hades. Auch hier könnte man eine Analogie zu Heike und Arnold finden.

„Der Glaube braucht keine Worte. Das heißt, der Glaubende braucht keine Worte.“ Dies sagt Alexej, der Schweigende. Die weltliche Gegenmeinung äußert Nils, ein Freund der Zwillinge: „Weißt du, was von der Welt ohne Reden übrigbleibt?“ In diesem Spannungsfeld bewegt sich der Roman von Andreas Maier. Der Glauben wird den Medien und dem Konsum entgegensetzt, das Schweigen und Meditieren dem Quasseln und Schreien, die innere Ruhe, das Licht in einem selbst, dem nach Außen Expandieren, dem Konsumieren. Als Beispiel kann hier Alexejs zufälliges Erscheinen bei der Eröffnung des neuen Karstadt gezählt werden. Der Autor leistet hier Kulturkritik auf andere Weise: Selbst das Ende, das man religiös lesen kann, endet mit einem filmischen Trick, einer Abblende, und symbolisiert den Sieg des Trivialen über das Geistige.

Es gibt Bücher, die einem ans Herz gehen, oder nach Kafka, das innere Eismeer in einem zum Schmelzen bringen. Es gibt aber auch Bücher, die man mit ein bisschen Distanz und auf intellektuelle Weise lesen muss, damit man seinen Spaß hat. Zum Letzteren zähle ich Andreas Maiers Werk. Gelegentlich muss man in der Literatur manche Abschnitte mehrmals lesen, um die Tragweite zu verstehen. Andreas Maier, der 2004 Stadtschreiber in Potsdam werden sollte – was allerdings in einem Fiasko endete, das an Sanssouci erinnert –, lässt die Leserin bzw. den Leser mit ihm durch das „sorgenfreie“ Potsdam, das für die menschlichen Abgründe steht, gehen (fast so wie die „Spaziergängerin“ Romy Schneider), dabei spart er nicht an Lichtgestalten und dunklen Geheimnissen. Ein Kopfkino für Menschen, die das Aufspüren einer Tiefe unter der Oberfläche schätzen.

Veröffentlicht in Buch